Kutschfahrt mit einem Mäzen, Wutreden auf der Milchrampe sowie Sehnsucht nach dem Meer – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Hallo. Da kommen wir Ihnen zu Beginn des heutigen Newsletters gleich mal mit einer Bildungsfrage: Parlez-vous français? Sind Sie eigentlich des Französischen mächtig (oder des Französischen doch eher ohnmächtig)? Wenn nicht, dann würde das im Alltag natürlich auch nichts machen, aber im positiven Falle verstünden Sie einen Begriff anfangs des fünften und damit letzten der fünf Deals der Woche sozusagen von selbst, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 20.04.18 – Freitag, 27.04.18) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Aber keine Angst, Joachim Nowotny, der Autor der Erzählungen „Sonntag unter Leuten“ hat eine Sicherheit und Übersetzungshilfe eingebaut, falls Sie doch nicht … Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Von Französisch und Frankreich zu Englisch und England. Denn von dort stammt ein großartiger Maler, dem Ingrid Möller ihren großartigen Thomas-Gainsborough-Roman „Der Maler und sein Biograf“ gewidmet hat. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie mit diesem Buch erst einmal anfangen, dann werden Sie wohl nicht so schnell wieder davon loskommen. Und besorgen Sie sich vorsichtshalber schon mal einen Gainsborough-Katalog oder eine Gainsborough-Biografie wie die 1979 in der Reihe „Welt der Kunst“ des Berliner Henschelverlages erschienene des ungarischen Autors György Kelényi, um ein bisschen nachvollziehen zu können, wovon Ingrid Möller spricht oder besser schreibt. Gleichsam zum höheren, weil beBILDERten Vergnügen.

Ganz in ihren Bann zieht die Leser auch die Novelle „Kreuz am Waldrand“ von Elke Nagel, in der es um einen Verrückten geht. Oder ist nicht er verrückt, sondern die anderen? Von einer großen Sehnsucht handelt eines von zwei Kinderbüchern aus der beliebten Kleinen-Trompeterbücher-Reihe des DDR-Kinderbuchverlages „Tina entdeckt das Meer“ von Lonny Neumann. Außerdem weiß sie: „Hexen gibt es nicht“. Zurück in die konfliktreichen frühen fünfziger Jahre der DDR und deren Auseinandersetzungen, über die man aus heutiger Sicht mitunter nur verwundert und wütend zugleich den Kopf schütteln kann, führt uns Erik Neutsch mit „Frühling mit Gewalt“ – Teil 2 von „Der Friede im Osten“. Packend erzählt. Noch immer packend, auch wenn es nun schon fast siebzig Jahre und damit ein Menschenalter her ist …

Schließlich noch die bereits anfangs dieses Newsletters erwähnten Erzählungen „Sonntag unter Leuten“ von Joachim Nowotny. Und Sie wissen schon Bescheid. Parlez-vous français? Und wie sieht es eigentlich mit Ihrem (Schul)Englisch aus?

Erstmals 2011 veröffentlichte Ingrid Möller in der edition NORDWINDPRESS Lychen ihren Thomas-Gainsborough-Roman „Der Maler und sein Biograf“: In Deutschland sind Gemälde von Gainsborough (1727- 1788) rar, weshalb er hier auch bei weitem nicht so bekannt und geschätzt ist wie in seinem Herkunftsland England oder auch in Amerika. Sein Ruhm ist heute wieder im Steigen begriffen, wie besonders die Ausstellung in der Londoner Tate Gallery 2002 beweist, die vom Washingtoner Museum übernommen wurde. Gainsborough war ein begabter Porträtist, wäre aber lieber Landschaftsmaler gewesen, wofür jedoch damals das Publikum noch nicht reif war. Seine Aufträge kamen vor allem von der high society bis hin zum Königshaus, wie das Ganzfigurenbildnis der Queen Charlotte in Schwerin beweist. Wer davorsteht, wird gefangen von der Lebhaftigkeit der Malweise, die für seine Zeit modern, ja impressionistisch anmutet. Und diese malerische Auffassung bewog damals den konventionellen Akademiepräsidenten Reynolds in seiner Rede kurz nach Gainsboroughs relativ frühem Tod, den besonderen Reiz zu loben, gleichzeitig aber auch seine Schüler vor Nachahmung zu warnen. Die zahlreichen Briefe, die erhalten blieben, überraschen durch Esprit und – aus heutiger Sicht – Modernität. Wer sich in Gainsboroughs Lebensgeschichte vertieft, lernt einen sensiblen Künstler kennen, offen für seine vielen Freunde, aufgeschlossen für andere Kunstbereiche wie Musik und Schauspiel, aber auch mit einem Hang zu Leichtsinn und Beeinflussbarkeit. Das Buch von Ingrid Möller beginnt mit der Beschreibung eines großen Tages:

1. Kapitel
Eröffnungstag der Ausstellung der Society of Artists – das bringt die gesamte Londoner Kunstwelt auf die Beine. Da wird diskutiert, disputiert, komplimentiert. Da werden Absprachen getroffen, Aufträge vergeben, Meinungen statuiert. Klatsch und Tratsch finden neue Nahrung.

Bei seiner beträchtlichen Leibesfülle hat Philip Thicknesse Mühe, sich eine Schneise durch die Menschenmenge zu bahnen. Unübersehbar zahlreich hängen die Gemälde in Sechserreihen übereinander, Rahmen an Rahmen, als wären sie nur Folie, nur Bühnendekoration für das Schauspiel, das sich hier alljährlich nach gleichem Ritual abspielt. Wer auf sich hält, muss dabei gewesen sein, um mitreden zu können, später in den Salons, auf den Partys. Thicknesse schwitzt in seinem schwarzen Ausgehrock. Ein Glück nur, dass er keine Perücke aufhat! Mit dem spitzenbesetzten Schnupftuch wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn. Hochrot ist sein Gesicht, als stünde der Schlaganfall kurz bevor. Schrecklich, dieses Gedränge!

Wer ihn kommen sieht, tritt unwillkürlich einen knappen Schritt zurück angesichts der Massigkeit der Gestalt und wegen der mürrischen Miene. Die buschig-breiten, zusammengezogenen Brauen, die stechenden Blicke und die zur Dauerfalte erstarrten herabgezogenen Mundwinkel lassen keinen Zweifel, dass mit diesem Mann nicht gut Kirschenessen ist.

Zielstrebig suchen seine scharfen Augen die Wände ab. Wo – zum Teufel! – hängt denn nun das Bild, das im St. James Chronicle erwähnt wurde? Das ganzfigurige Bildnis des William Poyntz, das angeblich so ähnlich geraten sein soll und auf dem der „lebendige“ Hund so gerühmt wurde. Unwillkürlich trifft Thicknesse immer wieder Bekannte, die ihn aufhalten und ablenken. Einige wimmelt er schnell ab, bei manchen wäre es nicht ratsam. Jetzt kommt Horace Walpole auf ihn zu, der Kunstpapst, dessen Meinung mehr Gewicht hat als die aller übrigen Rezensenten zusammen. Er trägt einen lavendelfarbenen Anzug, silberbestickt, dazu rebhuhnfarbene Strümpfe, weiße Halskrause und Spitzenmanschetten, goldene Schuhschnallen und – um die Schmalheit seines Kopfes noch zu betonen – eine glatt gekämmte Perücke mit Mozartzopf.

„Mein lieber Thicknesse, wie erfreulich, Sie zu sehen!“ Die Begrüßung ist ebenso formvollendet wie nichtssagend. Wie könnte auch Walpole Wert darauf legen, mit dem plumpen Kerl gesehen zu werden und wie könnte Thicknesse diesen eleganten Schönling mögen! Doch einer momentanen Laune folgend gefällt es Walpole, stehen zu bleiben. Wie sehr muss der Kontrast doch auf die übrigen Besucher wirken. Er weiß sich vorbildhaft nach den neuesten Anstandsregeln zu benehmen. Gesicht und Hände sind von vornehmer Blässe. Den Zylinder unter den Arm gepresst, geht er mit gebogenen Knien auf Zehenspitzen, als ob der Fußboden nass wäre.

„Ganz meinerseits!”, murmelt Thicknesse. „Habt Ihr vielleicht das Bildnis des William Poyntz gesehen?”

Walpole überhört die Frage, denn eben ist er im Türrahmen erschienen, der ungekrönte Malerfürst, auf den Walpole gewartet hat: Joshua Reynolds. Mit vorgestreckter Hand und geneigtem Kopf geht er ihm entgegen. „Gratuliere! Ein wirklich ganz exzellentes Bild! Im Kolorit wie im technischen Raffinement durchaus den alten Meistern ebenbürtig! Wahrlich, Euer Name gehört für alle Zeiten in die oberste Reihe der großen Künstler!“ Walpoles dunkle Augen leuchten lebhaft und seine dünne, aber stets angehobene Stimme weckt allgemeine Aufmerksamkeit. Alle warten gespannt, welches Bild gemeint ist.

Reynolds naht gemessenen Schrittes und wehrt das Lob ab, mit einer weltmännischen Geste der Bescheidenheit. „Sie übertreiben, wie immer, mein Lieber!“ Trotz seiner strengen, stets beherrschten Züge wird deutlich, wie geschmeichelt er sich fühlt. Ohne Zögern wendet Reynolds sich dem Bild zu, das Walpole ganz sicher meint: das Bildnis der bekannten Halbweltdame Nelly O’Brien.

Thicknesse stutzt. Alles, was recht ist, ein tolles Bild! Dieses Licht! Diese Lebhaftigkeit! Dieses Feuer in den Farben! Wie kommt es nur, dass es ihm nicht gleich aufgefallen ist, so zentral wie es hängt? Es muss wohl am Gedränge gelegen haben. Wider Willen bestaunt Thicknesse noch eine Weile das Gemälde, dann wendet er sich abrupt ab und sucht nach dem anderen Bild, um das er herkam.

„Kann ich helfen?“, fragt hinter ihm ein junger Mann. Thicknesse dreht sich um und sieht in ein offenes, erfrischend sympathisches Gesicht, das jede Brummigkeit von ihm abfallen lässt.

„Ja“, sagt er ungewöhnlich freundlich, „Wisst Ihr, wo das berühmte Bildnis von Thomas Gainsborough hängt?“

„Berühmt?“, fragt der junge Mann irritiert, „und wie – sagtet Ihr – soll der Name sein?“

„Thomas Gainsborough!“ Thicknesse sagt es mit Nachdruck. Sollen es nur alle Umstehenden hören!

„Bedaure. Aber so gut kenn ich mich hier noch nicht aus. Ach – Entschuldigung! – mein Name ist Northcote, James Northcote. Ich möchte auch Maler werden. Am liebsten hätte ich Reynolds zum Lehrer. Ist sein neuestes Bild nicht umwerfend?“

Thicknesse räuspert sich und schluckt seinen Groll hinunter. „Gibt es für Euch nur Reynolds?“

Northcote strahlt: „Er ist der Größte! Und nur am Größten soll man seine Maßstäbe bilden. Stimmts nicht?“

„Ihr seid noch sehr jung. Glaubt Ihr wirklich, Reynolds’ Ruhm dauert ewig? Meint Ihr nicht; er könnte eines Tages überstrahlt werden – und sei es in zwanzig oder dreißig Jahren?“

„Durch wen denn?“, fragt Northcote ehrlich überrascht.

Thicknesse holt tief Luft. „Vielleicht durch den Maler, dessen Name Euch nicht geläufig ist, durch Thomas Gainsborough.“

Ungläubig schüttelt Northcote den Kopf. „Niemals! – Aber neugierig habt Ihr mich nun doch gemacht.“

Gemeinsam gucken sie die Wände ab. Ein Ganzfigurenbild soll es sein. Ein junger Mann an einen Baum angelehnt. Nach den Vorschriften der Hängekommission müsste es „over the line“, also hoch hängen.

„Könnte es das sein?“, fragt Northcote nach einer Weile und zeigt auf ein Bild, auf das die Beschreibung passt. Zweifellos. Thicknesse schweigt enttäuscht. Nein, er muss dem Jungen recht geben: dieses Bild kann nicht bestehen neben dem Reynolds’. Leider. Gainsborough kann es doch besser! Warum hat er die Beine so steif gemalt, als hätten ihm Puppen Modell gesessen wie ganz am Anfang seiner Ausbildung? Wie unnatürlich abgewinkelt ist dieses Knie! Man wartet ja förmlich drauf, dass der junge Mann wegrutscht! Thicknesse braucht eine Weile, um sich zu sammeln.

„Stimmt es nicht? Ist es ein anderes Bild?“

„Doch. – Habt Ihr zufällig die Ausstellung vor zwei Jahren gesehen?“

„Leider nein. War dort ein besseres Bild von diesem Maler?“

„Eines, das viel Aufsehen erregte, das Porträt der Ann Ford.“

Northcote grübelt. Die Kritiken hat er doch immer gelesen und auf alle Nachrichten geachtet. „Ach!“, sagt er, „war es das Bild, von dem Mrs. Dekny gesagt hat: ‘eine ungewöhnliche Person, hübsch und kühn, aber es würde mich betrüben, jemanden, den ich liebe, so dargestellt zu sehen?’”

„Ja, so was hat die dumme Pute geäußert.“

„Ach, und später hieß es, die Dame auf dem Bild habe einen ziemlich unmöglichen Mann geheiratet.“

„So, hieß es das?“

Thicknesse hat wieder seine undurchdringliche Miene. Er mag diesen offenherzigen Jungen. Man merkt ihm an, dass er noch nicht lange in London lebt. Möge er sich seine Frische und Unverdorbenheit bewahren! „Ich mache Euch einen Vorschlag, Northcote. Ich zeige Euch dieses Bild der Ann Ford, und wenn Ihr dann immer noch darauf besteht, dass Reynolds niemals durch Gainsborough übertroffen werden könnte, dann schließen wir eine Wette ab mit langer Laufzeit.“

Northcote lacht. „Von solcher Wette hab ich noch nie gehört, aber warum nicht? – Welche Laufzeit? Welcher Einsatz?“

Er denkt daran, dass jemand einen teuren alten Bleiglasspiegel zerschlagen hatte wegen der Wette, wie viel Scherben es gäbe. Schließlich wird hier nichts beschädigt als vielleicht ein bisschen Ruhm. Und wahrscheinlich noch nicht einmal der. „Laufzeit: 25 Jahre, falls die Bedingung nicht schon früher erfüllt ist. Jetzt haben wir 1762, das wäre also 1787. Einsatz: Der Gewinner schreibt die Biografie des Siegers.“ Dabei ist wirklich nichts zu verlieren.

„Und Ihr wisst, wo das besagte Bild hängt?“

„Aber sicher! Kommt nur gleich mit!“

Unterwegs in der Kutsche erzählt Thicknesse, wie er Gainsborough kennengelernt hat. „In Ipswich war ich gut bekannt mit dem Verleger der dortigen Zeitung. Mit ihm ging ich eines Tages durch die Obstgärten spazieren. Plötzlich fiel mir ein Mann auf, der sich über eine Mauer lehnte. Ein Birnendieb? ‘Wer ist der Mann?’, fragte ich. ‘Weiß nicht, gestern war er auch schon da’, sagte mein Freund ungerührt. Merkwürdig. Wir kamen näher. Der Mann rührte sich nicht. Und erst aus der Nähe sah ich, was los war: der Mann war gemalt, auf eine Holztafel, die an den Umrisslinien ausgesägt war. Ein Jux also. Denjenigen, der mich so gefoppt hatte, wollte ich kennen lernen. So geriet ich an Thomas Gainsborough.”

„Und nun ist er Euer Freund?“

„Gewiss. Ich hab ihm Aufträge verschafft und dafür gesorgt, dass er aus dem kleinen Nest herausgekommen ist. Sein Ruhm ist nicht mehr aufzuhalten.“

„Dann seid Ihr also sein Mäzen?“

Das Wort hört Thicknesse gern. Es klingt nach unermesslichem Reichtum und nach Sachverstand. Er nickt: „So etwa.“

Die Kutsche hält. Thicknesse hat einen Schlüssel für die Haustür. Und schon stehen sie vor dem besagten eleganten Bildnis. Vor einem dunkelroten Brokatvorhang sitzt in betont lässiger Pose die kapriziöse junge Dame. Den linken Ellenbogen stützt sie auf einen Stapel Noten, die Viola hält sie im Schoß. Der Kopf ist nach rechts gerichtet, das rechte Knie übergeschlagen. Das silbrig glänzende Kleid mit Spitzenaufsätzen umwogt sie, – als hätte es eine Schleppe … Ein durch und durch stimmiges Bild, voll Spannung durch die Diagonalen.

Northcote kann nicht leugnen, dass es ihn beeindruckt. Möglich, dass er die Wette doch noch verliert. Aber bis dahin fließt viel Wasser den Berg hinunter.

Eine Tür öffnet sich. Seidenstoff raschelt. Eine melodische Frauenstimme sagt: „Ach, Philip, Du hast Besuch mitgebracht?“

Northcote dreht sich um und erstarrt. Vor ihm steht die Dame aus dem Bild. Sie, über die er den Tratsch nachgeplappert hat! Er läuft puterrot an und begreift schlagartig: Thicknesse ist also der Mann, der sie geheiratet hat und von dem es hieß, dass er ein unmöglicher Mensch sei! Noch schlimmer kann man wohl in kein Fettnäpfchen treten! Vor Schreck bringt er kein Sterbenswörtchen heraus. Nicht einmal eine förmliche Begrüßung.

„Was ist? Bin ich ein Gespenst?“, fragt Mrs. Thicknesse belustigt. „Dein junger Freund ist wohl etwas schüchtern?“

Thicknesse verrät nichts. „Er will selbst Maler werden und ist noch neu in London. Es scheint ihn alles ein wenig zu verwirren.“´

Erstmals 2007 erschien im Lusatia Verlag Dr. Stübner & Co. KG Bautzen die Novelle „Kreuz am Waldrand“ von Elke Nagel: Da klettert ein Mann von Zeit zu Zeit auf die Milchrampe eines kleinen Dorfes und hält wütende Reden. Angeblich ist er ein Irrer. Nicht normal. Weil er nicht verstehen kann, dass da ein Wehrloser erschossen wurde und seinem Mörder nichts geschehen ist. Niemals. Weder damals noch später noch jetzt, wo er geehrt und dekoriert wird. Aber der ist ein Mörder, sagt der Mann, ihr alle seid Mörder. Du bist verrückt, sagen die Leute. Der Mann fertigt dem Erschossenen ein Holzkreuz. Stellt es auf unter den Birken am Waldrand. Erneuert es mehrmals, denn es wird mehrmals entfernt. Später besucht er es, mit seinem Hund Churchill am Bindfaden, schmückt es mit frischen Blumen. Der ist verrückt, sagen die Leute immer noch. Wer den Irrsinn der Welt nicht versteht, muss wohl verrückt sein. Letztendlich ist Gras über ihn und das Kreuz am Waldrand gewachsen. Gras des Vergessens. Die Autorin hat ihrer sehr lesenswerten, berührenden Novelle zwei sehr bemerkenswerte Sätze vorangestellt: „Diese Geschichte und die handelnden Personen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und Ereignissen waren unvermeidbar.“ Hier gleich die ersten drei Kapitel dieser Geschichte – dieser Geschichte eines Mannes, der verrückt sein soll, wie Leute behaupten:

1. Kapitel
Dies ist die Geschichte eines Verrückten. Vielleicht auch eines angeblich Verrückten, das ist nicht sicher. Ich kenne sie vom Senek Jurij, dem Maler, Bildhauer und Holzschnitzer, der wiederum hat sie – von ein paar eigenen Kindheitserlebnissen abgesehen – vom Mattes, das aber ist jener Verrückte. Oder angeblich Verrückte.

Dieser Mattes, der genau genommen Matthias Knopka hieß, war am 7. Oktober des Jahres 1979 zum dritten Mal auf die Milchrampe eines kleinen Dorfes in der mittleren Lausitz geklettert, das ich Steinau nennen werde — was aber bedeutungslos ist, es könnte auch ganz anders heißen — , um seine Rede zu halten, er war da fast siebzig Jahre alt. Die Milchrampe stand in der Mitte des Dorfangers; sie stand dort seit eh und je, aus soliden Eichenbrettern gezimmert, niedrig genug, damit auch eine Bauersfrau ihre Kanne hinaufwuchten konnte, aber doch so hoch, dass der Milchfahrer kaum Mühe hatte, die Kannen auf seinen Wagen hinüberzuziehen. Die Rampe erschien Mattes heute sehr viel höher zu sein als im Frühjahr 1945, höher auch als 1955. Damals, bei seinen beiden ersten Auftritten auf diesen Brettern, war er – Anlauf nehmen, aufstemmen, aufrichten – fast hinaufgeflogen; diesmal, obwohl nicht weniger beflügelt von Wut und Eifer, zog er sich mühsam auf den Rand der Rampe, lag sekundenlang in bedrohlicher Schwebe, bis es ihm endlich gelang, den Körper hinaufzuwälzen und sich aufzurichten. Sorgfältig entstaubte er seinen dunkelbraunen Feiertagsanzug, rückte den schwarzen Schlips gerade und zischte dem Hund, der leise winselnd unten stehengeblieben war, ein „Sitz, Deifi!“ hinunter. Deifi gehorchte sofort.

2. Kapitel
Niemand hatte den alten Mann, der von jeher und von jedem nur Mattes genannt wurde, jemals ohne diesen gelblich-weißen, mittelgroßen Hund gesehen; der Hund trug kein Halsband, sondern einen Bindfaden um den Hals, dessen Ende in Mattes’ linker Faust verschwand. Er hieß auch gar nicht Deifi. Denn wenn Mattes „Deifi“ sagte, meinte er „Teufel“. Und dem Bildhauer Jurij Senek hatte er anvertraut, er habe seinen Hund Churchill genannt. Aus Dankbarkeit, verstehst, Jurij, ja?

Nein, hatte Jurij gesagt, ich versteh nicht, Mattes.

Nein? Dann muss ich dir erzählen. So begannen ihre stundenlangen Gespräche meistens: ein kleiner Anlass, eine Frage, eine Antwort, ein „Verstehst, Jurij? Nein? Dann muss ich dir erzählen.“ Dann holte Jurij eine Flasche, zwei kleine Gläser, sie hockten in seinem Atelier, rauchten Zigaretten, Jurij hatte sich längst ein Blatt gegriffen und einen Stift, und wenn sie nach Stunden auseinander gingen, blieb ein Mattes-Kopf zurück: rundes Gesicht, kleiner Mund, grauer Schnauzbart darüber, Nase breit und flach, Augen klein, rund und wasserblau, eng beieinander und beschirmt von weißgrauen Brauen.

Jetzt waren sie verengt zu zwei schmalen Schlitzen. Mattes stand breitbeinig auf der Rampe. Er trug keine Kopfbedeckung; sein halbkahler Schädel glänzte in der Nachmittagssonne. Der Dorfplatz war nicht menschenleer. Und von den drei Straßen, die zu ihm führten, näherten sich Gruppen von Menschen. Und ein paar Kinder jagten von Haus zu Haus, sie riefen: He, der Mattes! Auf der Milchrampe steht er, der Mattes!

Er stand lange schweigend und reglos. Die Menschen machten zögernd halt, starrten ihn an, manche lachten leise, manche schauten vorsichtig um sich, einige gingen hastig weiter, auf die Tür der Gaststätte zu, „Nowaks Schenke“, über der ein weißes Plakat mit roten Lettern forderte: Es lebe der 30. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik!

Als der erste von ihnen die Klinke berührte, öffnete Mattes den Mund, gleichzeitig riss er die Arme nach oben, so dass der Hund hochgezerrt wurde und zu bellen begann. Begleitet vom heiseren Hundegebell, begann Mattes seine dritte Rede auf der Milchrampe. Heert mir zu! verlangte er mit hoher Diskantstimme, die auch noch am Gaststätteneingang verstanden wurde, ihrr aalle seid verflucht und verdammt bis in die Ääwigkeit, wänn ihrr nicht in euch geht. Näähmt ihm den Orden ab! Är ist ein Määrder! Alle Steinauer sind Määrder! Määrder! Nur Jurij Senek nicht. Däär nich. Aber sonst aalle Steinauer sind Määrder! Da bräuchten sie gar nicht so zu lachen und zu rufen! reagierte er auf Gelächter und Zurufe der Leute. Dass sie gestern in Berlin dem Schüttmann Siegfried die Medaille verliehen hätten, den Karl-Marx-Orden, das sei schändlich, Karl Marx werde sich im Grabe umdrehen, falls er das denn könne, weil Schüttmann ein Mörder sei, er habe den Igor erschossen, obwohl der sich an die Birke geklammert habe, mit beiden Armen. Nich gewäährrt hat er sich, nich geraannt ist er, schrie Mattes, hab’s gesähn, mit diesen meinen Augen gesähn, wie er hat erschossen den Igor, meinen Igor.

Er schwieg abrupt, senkte den Kopf, zischte den Hund an, der sofort zu bellen aufhörte; die Leute lachten nicht mehr, sie schauten sich kopfschüttelnd an und gingen ihrer Wege, was heute hieß: Sie gingen alle den einen Weg, zur Festveranstaltung in den Saal von Nowaks Schenke.

3. Kapitel
Komm runter, Mattes. Na los, gib mir die Hand.

Jurij? Hast mich gehört? War’s so gut? Wird’s was helfen?

Wird nichts helfen, Mattes. Komm jetzt. Wieso hast du „mein Igor“ gesagt? Is´ er nich viel älter gewesen als mein Ältester. Hab ihn lieb gehabt, als wär er gewesen mein Hermanko. – Jurij Senek unterließ weitere Fragen, die Antworten auf die meisten kannte er ohnehin längst. Mattes behutsam an der Schulter führend, ging er mit ihm vom Dorfplatz.

Wolltest auch dahin? fragte Mattes mit einer Kopfbewegung zurück.

Nnja, nein, hm, antwortete Jurij. Zeigte auf seine blaue Schürze. So hätt ich da nicht hingehn können, was? Steck mitten in der Arbeit. Jemand kam mich holen.

Mattes kicherte. Haben sie’s mit der Angst gekriegt? Haben sie zu dir jemand geschickt, damit er sagt: Genosse Senek, komm und bring wieder zu Verstand den Mattes?

Senek beschäftigte sich verlegen mit dem Öffnen der Hoftür, blickte den alten Mann nicht an, schob ihn in den Hof, sagte: Komm schon, trinken wir erst mal einen.

Doch Mattes ließ sich nicht ablenken: War es so, ja?

So ungefähr, sagte Jurij ergeben.

Ha! rief Mattes, aber sie haben nun gesäähn, dass du tust arbeiten, heite, grad heite! Ich, ich bin der Mattes. Ich kann räden und räden, sie tun nix, weil ich hab den Paragraphen. Den Persilschein, wie die Leite sagen. Aber was werden sie jetzt tun mit dir?

Jurij lachte kurz auf. Nichts, sagte er. Und fügte hinzu, als er Mattes’ ungläubiges Kopfschütteln bemerkte: Fast nichts. Bisschen diskutieren, kritisieren. Genosse Senek, wird Schüttmann sagen – oder der Paschke Jens oder der Kowatsch Ingo – du als Künstler solltest ein Beispiel geben, werden sie sagen, fast alle kommen zur Festveranstaltung, aber du nicht. Und da werd ich antworten, seht mal, Genossen, ich ehre die Republik und ihren 30. Jahrestag doch auch, wenn ich etwas Schönes aus dem Stein schlage. Oder aus dem Holz schnitze. Bin halt in Druck. Hab ‘n Auftrag. Na, Mattes, was sollen sie darauf noch sagen? Gar nichts werden sie sagen. Froh sein werden sie, wenn es niemand an höhere Stellen meldet. Damit sie da nicht „Mode“ werden. Denn die höheren Stellen, Mattes, wenn du verstehst, was ich meine, die könnten Angst kriegen, dass hier auch so einer ist, so ein Künstler, der so aufsässig werden könnt’ wie diese Schriftsteller. Weißt du nichts davon? Na, auch gut, musst du nicht wissen. Mit denen haben sie jedenfalls genug zu tun. Da darf ich hier hinter den Wäldern, in diesem Nest Steinau, hier bei den Sorben, die ihnen eh nicht ganz geheuer sind, sogar ruhig mal rumschreien. Das stört keinen. Du glaubst nicht, dass ich auch mal rumschrei? Naja, nicht auf der Milchrampe. Das nun grad nicht. Aber so abends, bei Nowak in der Kneipe, da schon. Von diesem und jenem schrei ich da. Dass sie mich von der Welt abschneiden. Dass mein Trabant schon drei Monate auf dem Hof steht, weil’s irgendeine Eisenfeder nicht gibt. Neulich hat mich der Kowatsch Ingo beiseite genommen – du weißt, dass ihn alle „Mielke“ nennen? Weißt auch, warum? Gut, – also, er hat mich beiseite genommen, hat gesagt: Jurij, wenn du noch öfter solche Reden führst, kann ich auch nichts mehr für dich tun. Ist sicher kein schlechter Kerl, der Kowatsch. Nicht grad sehr klug, naja. Und sie fragen ihn halt ab, die von der Firma. Ich wette, der sagt keinem was Schlechtes nach. Der Mensch hat seinen Mund zum Reden und zum Schweigen auch. Aber du mit deinem „Alle Steinauer sind Mörder“. Warum sagst du sowas, Mattes? Die heut so alt sind wie ich, waren damals Kinder. Was haben die getan? Und der Schüttmann, und der Nowak, und der Pacholke, und wer immer noch dabei war, damals, die waren doch auch noch halbe Kinder.

Sie waren nicht, beharrte Mattes, während er sich auf einen der Hocker setzte, die wie Melkschemel aussahen, den Hund neben sich zu Boden drückte, die Ellenbogen aufstützte und den Kopf in den Händen vergrub. So alt wie der Igor waren sie. Nicht viel jünger wär mein Hermanko gewesen. Weißt, Jurij, was das Schlimmste ist? Weißt nicht? Ich werd dir sagen. Auch ich bin ein Märder. Nicht mit Wollen und Willen, das nicht. Aber: Ohne mich tät mein Hermanko noch leben. Und auch der Kleine. Weißt, den meine Elska Horst genannt hat. Weil das jetzt üblich ist, so hat sie zu mir geredet, weil viele heute Horst heißen. Hab ich geschrien: Elska, bist du verdreht, kann doch das Kind nicht so rufen, kann keinen Hund so rufen. Wie sich das anhört. Wie ein Pfurz hört sich das an. Ging da aber nichts mehr nicht zu ändern. Hab ich eben Hottelko gesagt zu dem Jungen … So, nun weißt du. Den Hermanko und den Hottelko, beide hab ich gemordet. Verstehst, Jurij?“

Das folgende Angebot dieses aktuellen Newsletters sind eigentlich zwei Angebote – zwei Angebote in einem: Erstmals 1980 veröffentlichte Lonny Neumann als Band 143 der zu DDR-Zeiten sehr beliebten Reihe der „Kleinen Trompeterbücher“ für Leserinnen und Leser von sechs bis neun Jahren, also im Erstlesealter, „Tina entdeckt das Meer“ und vier Jahre später als Band 169 derselben Reihe „Hexen gibt es nicht“: Bäume fliegen vorbei, Wiesen und Felder — der Himmel wird immer höher, und endlich sieht Tina das Meer! Was gibt es nicht alles am Strand zu entdecken! Am schönsten sind für Tina die vielen, vielen Steine, die großen und kleinen, die blankgeschliffenen und die mit dem kleinen Loch, die Hühnergötter. Und als sie eines Tages vom Vater hört, dass in einem fernen Ort mit dem schwer auszusprechenden Namen Reykjavik zwei Ringer um die Meisterschaft kämpfen, kommt Tina auf die Idee, dem einen – der wahrscheinlich wenig Chancen hat – einen Stein zu schicken, der ihm Glück bringen soll…

…Die Apfelbäume blühen schon, als nachts der Frost wiederkehrt. Um die Blüten zu schützen, besprühen wir sie mit Wasser. Tina sieht zu. Die fliegenden Tropfen erstarren, sobald sie sich auf die Blüten setzen, und werden eine hauchfeine Hülle aus Eis – wie ein gläserner Mantel…

Wenn du erfahren willst, was Tina im Laufe eines Jahres erlebt, so lies die vielen kleinen Geschichten, die ganz besonders für Leseanfänger geeignet sind. Und nicht nur, wenn du ein Naturfreund bist, wirst du Spaß daran haben und manches erfahren, was dir bisher unbekannt war. Und hier kommt der Anfang des ersten der beiden Einladungen zum Lesen für kleine Leute zwischen sechs und neun:

TINA ENTDECKT DAS MEER
Wie gern wollte Tina ans Meer! An keinen Ort der Welt wollte sie so gern! Sie kannte die Hügel und den kleinen See vorm Haus, die Bäume im Dorf, ein paar Straßen in der Stadt und die Straßenbahn. Doch immer wieder fragte sie: „Wo ist das Meer?“

In diesem Sommer sollte sie es zum ersten Mal sehen. Am letzten Schultag vor den Ferien drückte sie den Schulbusfahrer. Beim Aussteigen rief sie: „Ich fahre ans Meer!“ Der alte Busfahrer, der sie jeden Morgen abholte und sie jeden Abend brachte, lächelte. „Ich schick auch ’ne Karte“, sagte Tina.

Die Mappe mit den Büchern und Heften stellte sie viel schneller als sonst neben den Schrank in die Ecke. Dann fuhr Tina mit ihren Eltern in einer Autoschlange die Fernverkehrsstraße in Richtung Norden. Zuerst waren zu beiden Seiten der Straße schattige Wälder, Dörfer und Seen und Felder. Je weiter sie kamen, desto mehr Wiesen breiteten sich aus. Der Himmel in dieser unbekannten Gegend schien höher zu sein und anders, blasser blau als der, den sie kannte.

Im Fischerdorf am Bodden weideten Schafe auf einem Stück Wiese in der Nähe strohgedeckter Häuser. In einem der Häuser war alles für Tina und ihre Eltern vorbereitet: ein weiches, kühles Bett für jeden, ein Stuhl davor, eine Steingutschüssel zum Waschen und getupfte Mullgardinen vor dem blanken Fenster. Die Wirtin stand mit einer duftenden blauweiß gemusterten Schürze in der Tür. An den Ausschnitt ihres Kleides hatte sie sich eine Bernsteinspinne gesteckt, denn es war Sonntag, und sie wollte mit ihrem Mann, dem Fischer, und ihrem Sohn, dem Fischer, auf ein Bier in die gegenüberliegende Gaststube gehen. Über der Tür hing ein Spruch, und Tina buchstabierte: „Kumm, sett die dal, versök enmal!“

Die Eltern sagten: „Guten Tag!“ Frau Borgwart wischte sich die ohnehin sauberen Hände an der Schürze ab, bevor sie den Vater, die Mutter und Tina begrüßte: „Dach ook!“ „Wir wollen man noch kaltes Wasser mit hineinnehmen“ sagte sie und ging zum Brunnen und schob den hölzernen Deckel beiseite. Sie ließ den Eimer, der am Ende eines langen Stockes hing, hinab, bis er den Wasserspiegel erreichte. Der Eimer füllte sich mit dem Wasser, das der Brunnen gesammelt hatte.

Tina stellte sich auf die Zehenspitzen und sah zu. Für einen Augenblick war sie die Marie, die der Spindel hinterherspringt. Und der Apfelbaum der Frau Borgwart, der im Garten zwischen gelben Rosen und gläsernen Kugeln stand, war ein Apfelbaum auf der Wiese tief unten im Brunnen. Und die Äpfel riefen: „Pflücke uns, pflücke uns, wir Äpfel sind alle miteinander reif!“

Der Hahn war auch da. Er saß auf dem steinernen Bogen über der Gartentür. Das Wasser roch nach Erde und Kühle und warf Tinas Bild zurück. Es sah aus, als ob sie tanzte und lachte, denn das Wasser bewegte sich. Das war so schön, und Tina vergaß: Das Wichtigste, das Eigentliche, das Meer kommt ja noch! Erst als die Eltern riefen, fiel ihr wieder ein: „Fahren wir jetzt ans Meer?“ Und sie rannte zurück, als sei der Sommer dazu gemacht, von einem Wunder ins nächste zu fallen.

Tina musste mit ihren Eltern über eine lange Brücke fahren. Die führte über den Bodden, dieses kleine Meer mit den Segelbooten. Noch bevor sie die Brücke erreichten, zeigte die Ampel Rot, und sie mussten warten und warten. Die schmale hölzerne Brücke schwenkte aus, wie ein Arm, der sich langsam, sehr langsam zur Seite legen konnte, um die Boote durchzulassen. Als die Brücke endlich wieder eingezogen war, fuhren sie rumpelnd über die lockeren Bohlen. Und der Wärter und Ampelbediener stand neben seinem Häuschen und stippte mit der Hand an die Mütze, als wollte er jeden grüßen, der gemächlich über seine Brücke hinweg ans Meer fuhr. „Nur noch die Straße linksherum“, sagte der Vater, „dann sind wir am Meer.“ Die letzten Häuser trugen Namen. Tina buchstabierte wieder: „Haus Sonnenschein“ und lachte. „Seit wann wohnt die Sonne in einem Haus?“ Sie staunte über die strohgedeckten Häuser und die Bäume am Straßenrand, deren Blätter vor Staub kaum zu erkennen wären.

Das Meer lag hinter der Straße und den Dünen. Darauf wuchsen Hälmchen, die Tina nicht kannte. „Strandhafer“, sagte der Vater. Im Näherkommen hörte sie ein Rauschen, wie zu Hause, wenn über die Kiefern ein leichter Wind strich! Ein Sandweg führte über die Dünen.

Dann sah Tina endlich das Meer. Es war gelb und blau und grün wie ein großes, sanftes Tier, das schlief und dabei schnaufte. Tina konnte nicht erkennen, wo das Meer aufhörte und der Himmel anfing. Es war anders als das Meer in ihrem Märchenbuch mit den Bildern vom Fischer und syner Fru, nicht so dunkelgrün und ohne Wellen mit Schaumkronen.

Tina lief ans Wasser und gleich hinein. „Ist hier ein Trecker durchs Meer gefahren?“, rief sie und zeigte auf Spuren, die so aussahen wie daheim im Dorf auf dem Sandweg.

„Das waren die Wellen“, sagte Vater.

Tina bückte sich, um Muscheln und Steine aufzuheben: gestreifte und rote, fast schwarze, manche mit einem Loch. Wenn sie die ans Licht hielt, konnte sie den Himmel sehen.

„Was für sonderbare Steine“, rief sie.

„Hühnergötter!“, sagte der Vater.

„Sie bringen Glück“, sagte die Mutter.“

Erstmals 1978 brachte der Mitteldeutsche Verlag Halle (Saale) das zweite Buch eines gewaltigen literarischen Werks von Erik Neutsch heraus. Die Rede ist von seinem letztlich (mit einen von seinen Schriftstellerfreund Eberhard Panitz posthum zu Ende geschriebenen „Letztem Buch“) fünf Bände umfassenden großen Romanzyklus „Der Friede im Osten“. Der Titel des „Zweiten Buchs“ von „Friede im Osten“ von Erik Neutsch, diesem Brocken von Kommunisten und Schriftsteller, lautet „Frühling mit Gewalt“: Im zweiten Buch begegnen wir den Helden des ersten Buches wieder, leicht verändert, sich entwickelnd: Frank Lutter ist Student der Journalistik, Achim Steinhauer studiert Biologie in Leipzig. Beide – jeder auf seine Art – haben nicht geringe Konflikte, Fragen, Zweifel zu bewältigen auf dem Weg durch das Studium. Sie durchleben den stürmischen, ereignisvollen, problemreichen „Frühling mit Gewalt“ der Jahre 1951 bis 1953 und werden mit brisanten weltanschaulichen, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und entscheidenden politischen Ereignissen konfrontiert. Was ist Objektivismus in der Wissenschaft in dieser Zeit? Ist Widerruf legitim? Ein Plan wird vorfristig erfüllt: Wo liegen die Grenzen zwischen Taktik und Betrug? Wir begegnen auch Münz, dem Genossen und Freund, der mittlerweile Chefredakteur einer Parteizeitung geworden ist, und Erich Höllsfahrt, der als Arbeiter an einer schwierigen Phase des Aufbaus einer neuen Industrie teilnimmt. Und neue Gestalten kommen ins Bild, wie der faszinierende Biologieprofessor Beesendahl. In den Kämpfen und Konflikten gilt es, Standpunkte zu erwerben, zu prüfen und zu behaupten. Und nicht wenige Episoden des turbulenten Studentenalltags zeigen sich auch in ihrer heiteren Dimension. Von der lebenslangen Mansfelder Dickschädeligkeit Lutherscher Art und Eigensinnigkeit des Verfassers zeugt auch der folgende Wunsch von Erik Neutsch: Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt. Und nun geht es aber los – mit einem …

Vorspann
Zeuch in die Mitternacht, in das entlegne Land,
das mancher tadelt mehr, als daß ihm ist bekannt!
Tu, was dir noch vergünnt der Frühling deiner Jahre!
Laß sagen, was man will! Erfahre du das Wahre!
Paul Fleming
(1634 in einem Gedicht auf Nishni Nowgorod)

Teil I: Besteigung einer Stadt
Dran, dran, dran, dyeweyl das feuer hayß ist. Lasset euer schwerth nit kalt werden, lasset nit vorlehmen! Schmidet pinckepancke auf den anbossen Nymroths, werfet ihne den thorm zu bodem! Es ist nit mugelich, weyl sie leben, das ir der menschlichen forcht soltet lehr werden.
Thomas Müntzer
(1521 in Mühlhausen an den Allstedter Bund)

ERSTES KAPITEL
Der Winter 1951 war von ungewöhnlicher Milde, trübe und regnerisch. Über Leipzig wälzten sich dichte und schmierige Nebel, gesättigt von den Abgasen und dem Ruß der alten, doch wieder intakten und angestrengt produzierenden Fabriken. Erst Ende Februar lüfteten Winde die Stadt, durchkämmten das Tal und bliesen den stickigen Dunst aus den Straßen. Es kam zu Kälteeinbrüchen und Schneefällen, aber auch bald, wie wir noch sehen werden, zu Katastrophen an den Flüssen der Ebene, als dann im März um so heftiger Tauwetter einsetzte.

Vorerst jedoch, an einem letzten und dunklen Januarabend, erwartete Frank Lutter mit wachsender Unruhe Achim Steinhauer. Er versuchte sich auf eine Begegnung vorzubereiten, wie sie so ungleich zwischen beiden wohl niemals zustande gekommen war. Oder doch? Aber wenn, war es schon lange her.

Frank gehörte einer Kommission zur Überprüfung von Parteimitgliedern an und saß nun aus diesem Anlaß im Kabinett des Zoologischen Instituts, das etwas abseits von dem mächtigen Komplex der Universitätskliniken auch heute noch in der häßlichen Talstraße liegt. Außer ihm befanden sich noch drei Männer im Raum, ein Propagandist aus der Kreisleitung der SED, der den Vorsitz führte, ein Schmied aus einem Werk des Schwermaschinenbaus und, als Vertreter der hiesigen Grundorganisation, ein medizinischer Assistent. Man hatte sich kurzfristig hier einquartiert, und so merkte man dem Kabinett deutlich die Improvisation an.

Die Vitrinen mit den Auslagen präparierter Schmetterlinge und ausgestopfter, in den Farben längst verblaßter Vogelbälge waren zur Seite gerückt. Ein mit rotem Fahnentuch bedeckter Tisch stand statt ihrer in der Mitte, davor ein Stuhl. Und vor allem wie ein Fremdkörper wirkte, eingezwängt an der stuckverzierten Wand zwischen hohen Bücherschränken mit dicken, vergilbten Sammelbänden, das bekannte, ebenfalls von rotem Stoff umrahmte Bild Ernst Thälmanns mit der Mütze der Schauerleute.

Seit über zwei Stunden bereits, wußte Frank, wartete Achim darauf, eingelassen zu werden. Nachdem er wie all seine Vorgänger viel zu früh vor die Kommission bestellt worden war, konnte er freilich nicht ahnen, daß er auch ihn, seinen Freund, hier traf. Der Assistent hatte Achim gebeten, sich zu gedulden. Von Mal zu Mal verzögerten sich die Gespräche. Auch heute würden sie wieder bis in die Nacht hinein dauern. Soeben hatte sich ein Professor verabschiedet, Beesendahl mit Namen. Jugoslawische Kriegsgefangenschaft. Korrespondenz mit gewissen Biologen aus Übersee. Diffuser Kaderfleck also, und überdies hatte er auch noch mit ungewöhnlichem Starrsinn, bebender Stimme zuletzt auf seinen Entdeckungen im Vogelauge bestanden. Schwalben, Laubsänger, Störche und Kraniche …

Das Orientierungsvermögen der Zugvögel sei angeboren, genetisch bedingt. Wie jedoch, fragte ihn daraufhin der Propagandist, erklärst du dir dann, Genosse, den Widerspruch, in dem sich deine Behauptung zu den neusten Erkenntnissen über die Umwelteinflüsse befindet? Der Disput wollte kein Ende nehmen. Zwar schwieg wie stets beim schwierigen Teil der Schmied von Unruh & Liebig, und der Assistent duckte sich über das Protokoll und tat, als sei er vollauf mit Schönschrift beschäftigt, aber er, Frank, konnte doch die Verhandlung dem Vorsitzenden nicht allein überlassen. Er sammelte Munition. Und da er erst kürzlich im Unterricht von der Theorie des Amerikaners Morgan gehört hatte, obgleich er sie so absurd und verderblich gar nicht gefunden, hingegen die von Malthus schon eher – schoß er sie dem Professor mitsamt dem großgeschützigen Satz auf die Brust: Sie sind ein Morganist.

Der Vorsitzende bedankte sich jetzt dafür, nicht ohne einen grimmigen Seitenhieb auf den Mediziner, wobei er mit seinen Bildern beim Thema blieb: Ein schönes Kuckucksei hat uns deine Grundorganisation mit dir ins Nest gelegt. Kuschst wohl vor Titeln, was, wie das Kaninchen vor der Schlange? Merke dir, vor der Partei ist jeder gleich. Dann schob er Frank noch einmal den Fragebogen Achims über den Tisch. Doch er kannte ja seinen Freund, kannte ihn besser, als der gründlichste Lebenslauf in einem Fragebogen ihn hätte beschreiben können. Er gab das Papier weiter, musterte nur für Sekunden das Paßbild, das obenan mit einer Büroklammer befestigt war. Den Kragen wie üblich offen, trug Achim das karierte Hemd, das sie beide erst neulich in einem Laden der Innenstadt gekauft und für das er ihm sogar ein paar Punkte von seiner Kleiderkarte geliehen hatte. Sein Freund, schmal im Gesicht, lächelte leicht. Doch die Augen, ihr ernster und beinahe trauriger Blick, paßten wiederum nicht zu diesem Lächeln.

Achim wirkte – wie sollte er es bezeichnen? – immer noch wie benommen. Seit seiner Ankunft in Leipzig, immatrikuliert an der Zweiten Philosophischen, der späteren Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, schlich er umher „wie die Kuh beim Donnern, wie der Ochse vorm Schlachtfest“ Solche Vergleiche zog Heiner Murgalla, Franks Zimmergenosse und Tischnachbar in der ABF vom ersten Tag ihres Studiums an, was an der alphabetischen Reihenfolge ihrer Namen lag. Sie gaben sich alle Mühe, den proletarischen Zuwachs aus Graubrücken aufzumuntern. Auch die Bude hatten sie ihm, ihrer eigenen gegenüber, in Schönefeld besorgt. Schien die Sonne, brauchten sie nur einen Spiegel aus dem Fenster zu halten und ihm durch die inzwischen kahlen Tomatenstauden in den Blumenkästen seiner Wirtsleute ins Zimmer zu leuchten. Ein Pfiff. Hallo! Gehst du mit ins Stadion! Chemie gegen Stahl Thale … Sonntags zum Fußball. Danach besuchten sie irgendeine Kaschemme im Ostviertel vor dem Hauptbahnhof oder das Antifa-Haus und feierten entweder den Sieg oder schwemmten den Ärger über die Niederlage ihrer Favoriten, Rose, Krause, Fröhlich und Co., hinweg. Doch wenn Achim sich schon mal aufraffte, mit einem Mädchen zu tanzen, kehrte er stets enttäuscht bis zum nächsten Sonntag zurück. Eines Tages erwischten sie ihn. Abends wurde er merkwürdig still. Was bedrückt dich bloß, Alter? Los, raus mit der Sprache. Hörst du uns überhaupt zu? Damals, sagte er, als Ulrike noch in der Klinik lag, hatten wir ausgemacht, immer um acht, komme, was wolle, ganz fest aneinander zu denken. Ich tu’s, und vielleicht tut sie dasselbe. Ach, muß Liebe schön sein, trällerte Murgalla, der Bauernlümmel.

Doch jetzt wartete Achim nebenan. Der Mediziner kratzte mit Dokumententinte die ersten Eintragungen ins Protokoll. Der Schmied rang raschelnd, was von der schartigen Haut seiner Hände herrührte, mit dem Papier. Ungeschickt hielt er den Fragebogen wie ein Buch, so daß ihm die losen Blätter mehrmals davonzusegeln drohten und er sie fortwährend ordnen mußte.

Frank hatte Achim gegenüber zwar angedeutet, daß auch er einer Kommission angehörte, nicht aber verraten, welcher. Wie nun würde es sein empfindlicher Freund aufnehmen, wenn er ihm hier begegnete? Der nächste Augenblick mußte es zeigen. Disziplin, mein Lieber, Vertrauenssache. Ich bin nicht gewählt worden, weil ich ein Schwätzer bin. Aber hätte er dann nicht auch konsequent sein und sagen müssen: Nein, Genossen, schickt mich woandershin, nicht zur Phil II, denn mit dem da, Steinhauer, bin ich verbrüdert, verkumpelt und fast verschwägert gewesen. Cliquenwirtschaft, eine Hand wäscht die andere, und gerade das will die Partei mit der Überprüfung ihrer Mitglieder verhindern … Wir hatten es einmal sogar selber gefordert, Achim und ich. Münz, macht endlich Schluß mit den Karrieristen. Da erzählte uns Matti eine Geschichte, daß er das Wundermittel nicht kenne, wonach fünftausend satt würden von fünf Broten und zwei Fischen. Und andererseits? Doch andererseits war Achim ihm noch eine Antwort schuldig. Kommunismus und Geld. Erinnerst du dich? So leicht wie damals läßt du mich nicht wieder sitzen. Die Entwicklung der Menschheit. Eine Wendeltreppe, von wegen … Damals steckten wir noch in den Kinderschuhen. Hier aber wird nach Gründen gefragt. Der Krieg in Korea und das Ostbüro der SPD. Es zeugt von unserer Stärke, daß wir schon jetzt, verleumdet und befehdet und erst knapp fünf Jahre nach der Vereinigung, unsere Reihen säubern können. Also, du wirst von mir hören. Ich werde dich fragen: Warum tratest du in die Partei ein?

Der Vorsitzende stand auf und zog sich den Mantel an. „Verdammt kalt hier inzwischen, ja?“ Dieses gehobene, am Schluß mancher Sätze mit einem Fragezeichen versehene Ja war in Mode gekommen. „Gibt es noch Unklarheiten, Genossen?“

Der Schmied legte erlöst den Fragebogen beiseite und schüttelte seinen nur mit spärlichem Grauhaar bedeckten Schädel.

Frank sagte: „Daß wir befreundet sind, Genossen, hab ich euch gestern schon mitgeteilt.“ Er wollte es wenigstens noch einmal erwähnt haben.

Der Assistent ging zur Tür, und Frank beugte sich unwillkürlich vornüber, stützte die Ellenbogen auf und sein Kinn auf die Fäuste und sah ihm angespannt nach.

Mit nicht weniger Anspannung betrat Achim Steinhauer den Raum. Exaltiert, wie wir ihn kennen, in seiner bekannten Sucht nach Übertreibungen sagte er später: Bis zum Bersten wie auf Bögen gezogen, spürte ich jede Faser meines Fleisches … Was wir jedoch verstehen, ist: Bei seinem Gemüt, das ihn auch als erwachsenen Mann nicht verließ, fühlte er sich einerseits wie erlöst nach dem Aufruf, andererseits aber war seine Erregung jetzt spontaner als zuvor und legte sich mit dumpfem Druck in seine Magengrube. Hier würde entschieden, ob er weiterhin würdig war, der Partei anzugehören. Schon war von den ersten Fällen die Rede, Ausschlüssen, Streichungen. Zwar hatte er noch die Kandidatenzeit zu bestehen, vielleicht aber machte es das noch viel schlimmer. Denn wenn sie ihn fragten, wie, wann und wo hatte er sich bewährt?

Sein Blick fiel sofort auf Frank. Es verschlug ihm – um es mit einem Klischee, wie er sagen würde, zu sagen – den Atem. Und plötzlich zuckte mein Zwerchfell. Ich hätte lachen, laut auflachen können und war, nach der Zerreißprobe vorher, wie erschlafft.

„Was ist, Genosse? Nur herein in die gute Stube. Ist dir nicht gut?“

Nein. Seine Stimmung in diesem Moment konnte nur er beschreiben. Nur flüchtig nahm er wahr, daß das Kabinett im Kontrast zu dem Fahnenrot noch muffiger wirkte als sonst.“

Ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig (der Verlag wechselte im Laufe seiner Geschichte mehrfach seine Struktur und Bezeichnungen) – allerdings zehn Jahre früher als das eben präsentierte Neutsch-Buch, also 1971, brachte Joachim Nowotny dort seine Erzählungen „Sonntag unter Leuten“ heraus: Weshalb schreibt Nowotny Geschichten? „Wir wollen, dass unser Jemand die Sache genau so sieht, wie wir sie sehen. Dass er sie so riecht und schmeckt und fühlt, dass sich seine Haltung dazu von der Unsrigen nicht unterscheidet. Und in dem Augenblick, in dem wir begreifen, dass unsere geläufige Sprache diese Übereinstimmung nicht herzustellen imstande ist, beginnen wir zu erzählen. Wir erzählen eine Geschichte. Die Geschichte, in der die Sache verborgen ist, aber nicht endgültig, sondern dergestalt, dass sie beim Erzählen zutage tritt. Verstehe, sagt plötzlich unser Jemand. Genau das ist es, was diese Erzählungen heraushebt. Sie kommen einem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Was der Dichter sagen will, steckt in den Geschichten drin. Und was für Geschichten! Bekommt da etwa der ehemalige zweite Bäcker Herr Rademann vom Arzt Arbeit an frischer Luft verschrieben und wird beim Bau einer Betonstraße eingesetzt. Ausgerechnet da streikt die so dringend benötigte Planierraupe, und es muss mit der Handdampframme weitergearbeitet werden. Bregula, Jule Bucht und Jauernicks Leo wollen sich einen Spaß machen, wohl auch ihren Ärger über die defekte Planierraupe auslassen und stellen den ehemaligen zweiten Bäcker an die Ramme, und diese zieht mit Herrn Rademann durch die Lausitzer Landschaft wie das Pferd mit dem kutscherlosen Wagen. Da wird der Leser ebenso lachen wie Jule Bucht und Jauernicks Leo. Aber Herr Rademann lernt das Untier, die „Tonne“, beherrschen und setzt sie schließlich so genau auf Jule Buchts Stiefelsohlenspitze, dass dem das Lachen im Halse stecken bleibt. „Geschichten machen sich immer gut“, meint Joachim Nowotny, „sie sind passiert, und keiner kann gegen sie an.“ Und das wird sich gleich zeigen, wenn Sie denn mögen. Legen, nein, lesen Sie einfach los. Die Geschichten werden Sie schon gefangen nehmen, wenn an dieser Stelle eine solche ungewöhnliche, aber zugleich durchaus treffende Formulierung erlaubt ist:

Malepartus
… als da wären: Circa zehn nicht vollständige Sätze. An die sieben teils bewundernde, teils entrüstete Ausrufe. Eine laut gewordene Vermutung betreffs der Echtheit oder Nichtechtheit von Eheringen. Diverse Atemstöße und himmelwärts gerichtete Blicke. Beteuerungen. Zuletzt ein Entschluss. Dies alles geäußert von Plaskuda, unserem Manne. Und nun der Verdacht: Da kann nur eine Geschichte dahinterstecken.

Freilich, manches spricht dagegen. Der Entschluss zum Beispiel. Wann hat eine Geschichte schon mal zu einem Entschluss geführt? Und dann diese Beteuerungen, diese Ausrufe – gar nicht Plaskudas Art. Soll das die fehlende Handlung ersetzen?

Die unvollständigen Sätze wollen wir nicht rechnen. Reden ist nicht Plaskudas Stärke. Der würde selbst einen dreistündigen Kampf mit einem Tiger in zehn Stichpunkten erzählen. Bleiben die Eheringe. Die nähren unseren Verdacht, dass etwas passiert sein muss. Vielleicht nichts besonders Dramatisches. Mehr so langsam auf- und abschwellendes Innenleben, bei dem jeder Beteiligte auf seinem Platz bleibt und nur hin und wieder etwas sagt. Das wäre schon etwas. Keine Story. Eben eine Geschichte. Aber genug der Vorrede. Fangen wir an.

Plaskuda also. Allein nach Feierabend in der Großstadt. Wohin soll man gehn? Die Kollegen fehlen, die sitzen zu Hause und lassen sich’s wohl sein. Plaskuda könnte in sein Pensionszimmer gehen und schlafen. Aber ihm ist nicht so. Ihm ist nach Gesellschaft. Und nach Bier. Was zusammengehört, wenn wir Plaskuda glauben wollen. Woher nimmt nun ein Mensch, der nur für vierzehn Tage in der Stadt ist, um aushilfsweise den Aufbau einer Maschine zu überwachen, woher nimmt der Gesellschaft? Theater, Kino, Restaurant Preisstufe III? Das würden wir Glück nennen, wenn sich dort ein Bierkumpel fände. Bleiben die Gaststätten der unteren Preisstufen. Plaskuda sucht. Er findet keinen ordentlichen Platz, wenigstens nicht in der Innenstadt. Er wandert langsam (bierdurstig, halb wütend, aber langsam) in einer Richtung auf den Stadtrand zu. Findet eine Gartenkneipe, prallt erschrocken zurück. Lärm, Qualm, das Bier läuft, aber es ist nicht gepflegt. Plaskuda hat da seine Ansprüche. Schließlich lockt ihn zwischen langweiligen Wohnblocks ein Schild mit seltsamem Namen: Malepartus. Nähmen wirs französisch, könnten wir es mit „schlimmer Durchgang“ übersetzen. Nähmen wir’s deutsch, dann hieße es schlicht Fuchsbau. Wir werden sehn.

Plaskuda jedenfalls geht hinein. Weiß gedeckte Tische, überraschend sauber. Bier in Tulpen, sahniger Schaum, der am Glas hängt. Eine Speisekarte, die unter anderem Currywurst verspricht, Bockwurst aber nicht verzeichnet. Ein nicht zu großer, heller Raum, wenig Gäste. Die nun in weißen Hemden, wenn auch offenen Kragen. Plaskuda ist richtig. Er setzt sich (dies ist eine deutsche Geschichte!) an den einzigen freien Tisch. Wird bedient, trinkt, sieht sich um, rüstet sich mit der alten Weisheit: Kommt Zeit, kommt Rat.

Dies zielt auf die Gesellschaft, nach der Plaskuda Ausschau hält. Drei junge Spunde am Ecktisch rechter Hand. Einer raucht, als gäbe er damit eine Vorstellung. Dies kennt Plaskuda, er hat’s damals bei seinen ersten Öffentlichkeitszigaretten auch so gemacht. Links gleich an der Tür ein hagerer Herr bei Korn und Selters, ganz gegen Plaskudas Geschmack. In der Mitte ein schneidiger Anfangzwanziger, der seine Freundin mit Kaffee Edel traktiert, sich selbst aber an Bier und damit zurückhält. So wird’s gemacht, wenn man was vorhat, denkt Plaskuda. Immer noch.

Bliebe der Ecktisch links. Da müssen wir nun eingreifen und erst einmal behaupten, dass Plaskuda diese Frau zuerst und vor allem anderen gesehen hat. Gleich, als er reinkam. Noch ehe er Tischdecken, Speisekarte und Raum inspiziert hatte. Vor dem ersten Schluck. Und auch bei der Musterung der anderen Gäste. Immer nur die Frau.

Unsinn, sagt Plaskuda, von uns ertappt. So ein Quatsch! Das wäre! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. So eine Frau, nicht wahr, die durchschau ich auf einen Blick. Sieht doch ein Blinder. Die nutzt den Alten aus, die lässt sich von ihm Kognak kaufen und schiebt dann mit einem anderen ab. Seht euch doch das Männchen an, bei dem sie sitzt. Verwittert der Kerl, verbraucht, ausgeblasen. Abgetrieben wie ein Ziehhund. Und die beiden sollen einen Faden spinnen? Lachhaft!

Deshalb greifen wir ein. Plaskuda ist hart in seinem Urteil. Hart und ungerecht, seit er in seiner Ehe Pech hatte, seit er in Scheidung lebt. Im Augenblick kann er dem weiblichen Geschlecht weder im Allgemeinen noch im Besonderen gerecht werden. Wir aber wollen es versuchen. Die Frau also, die mit dem Mann am Tisch sitzt, wir würden sie nicht gerade hübsch nennen. Aber – hm ja – weiblich. Kräftig, ohne robust zu sein, sauber, ohne Desinfektionsgeruch. Mittelblond, dunkeläugig, vielleicht fünfunddreißig. Mund und Zähne lassen uns an ordentliche Happen denken, an schrotiges Landbrot und Buttermilch. Das einzig Verwegene an ihr ist ein dünnes grünes Tuch, mit dem sie den Haarwust über Stirn und Nacken bändigt. Der Mann, das wollen wir nicht verhehlen, entspricht etwa Plaskudas Beschreibung. Na und? fragen wir. Die Liebe geht seltsame Wege. Warum sollen die beiden nicht miteinander auskommen? Sie sieht doch ganz zufrieden aus. Trinkt und lacht und lässt ihre Augen blitzen, und ihm macht’s Spaß, er redet und redet – was will man mehr!

Liebe, höhnt Plaskuda, muss mich wohl verhört haben? Die und den lieben! Die lässt den doch am kleinen Finger verhungern …, seht doch bloß die Ringe! Guckt sie euch an! Ihrer ist breit, seiner schmal und durchgescheuert. Muss man da noch mehr …? Also sagt, was ihr wollt: Die beiden sind falsch. ‚Wirklich, eine überraschende Wendung. Und nun kommt sogar Bewegung in die Geschichte, in der bisher alle bloß an ihrem Tisch sitzen. Drei, sechs, acht Mann hoch, stürzen sie in den Gastraum. Noch was frei? Überall, bitte sehr, hier ein paar, da ein paar Plätze. Bloß nicht! Wir sind eine Gesellschaft, Geburtstag, wissen Sie. Wir wollen zusammen sitzen. Ja, dann …

Das kommt davon. Plaskuda war vorhin von der Frau geblendet. Er hat nicht gesucht, nicht gewählt, er hat sich einfach hingesetzt. Natürlich an den einzigen großen Tisch, an den mit acht Stühlen. Nun wird er belauert, angestarrt, schließlich direkt gefragt. Würden Sie so freundlich sein? Was will Plaskuda machen? Er lässt sich von der Serviererin am Arm fassen und zu einem Vierertisch schieben. Zu dem Tisch in der Ecke links. Halb zog sie ihn, halb … – aber das wissen wir nicht genau. Plaskudas Gefühle entziehen sich in diesem Augenblick unserem Verständnis. Wir sehen nur, was außen vorgeht. Eine – nun ja – Verbeugung, ein Räuspern, ein halbes Wort. Dann das Einknicken der Beine, nun schon unter dem freundlich auffordernden Blick der Frau und unter dem Wortschwall des kleinen Mannes. Schließlich der Wink nach der Serviererin, zwei Bier und einen Kognak bitte! Plaskuda hat Gesellschaft!“

Vielleicht nehmen Sie jetzt auch einen Kognak, setzen sich ganz gemütlich in eine Ecke, schalten Ihr Handy und die Wohnungstürklingel ab und unternehmen eine literarische Reise durch Raum und Zeit. Viel Spaß beim Lesen und bis demnächst.

Aber Halt, einen Moment bitte noch!

Ganz zum Schluss darf ein guter Tipp für alte und neue Thomas-Gainsborough-Freunde nicht fehlen: Noch bis zum 27. Mai ist in der Hamburger Kunsthalle gleich hinter dem Hauptbahnhof der Freien und Hansestadt die große und großartige Thomas-Gainsborough-Schau „Die moderne Landschaft“ zu sehen. Gewissermaßen per BAHNCARD zur großen Kunst. Lohnt sich! Versprochen!

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern.

Insgesamt umfasst das Verlagsangebot derzeit fast 900 Titel (Stand April 2018)

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