Gold und Ruhm, Till Eulenspiegel in Bernburg sowie verschiedene Vorstellungen von Gott – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Was treibt Menschen an? Was sind die Motive ihres Handelns? Nun sind literarische Texte zwar keine Psychologielehrbücher, aber ein gutes Stück Menschenkunde steckt in jedem guten Text drin. Das gilt auch für das zweite der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 25.03. 22 – Freitag, 01.04. 22) zu haben sind. In seiner Biografie „Francisco Pizarro“ schreibt Volker Ebersbach nicht nur über das Leben dieses Eroberers, sondern klärt auch darüber auf, was ihn angetrieben hat.

Auch die anderen drei weiteren Sonderangebote dieses Newsletters haben denselben Verfasser: Mit die „Die Weinreisen des Dionysos“ legt er einen mythischen Roman vor. „Die letzte Fahrt der Württemberg“ ist ein autobiografischer Band mit Erinnerungen des Autors überschrieben, in dem nicht zuletzt auch die Frage danach beantwortet wird, wo Till Eulenspiegel eigentlich wirklich zu Hause war. Außerdem geht Ebersbach in der Untersuchung „Der Wille der Götter“ der Rolle nach, die Mythen und Priester für die Ausübung von geistlicher und weltlicher Macht in allen Zeiten gespielt haben.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder steht ein Krieg im Mittelpunkt, der zwar schon Jahrzehnte her ist, aber dennoch den Autor und die Figuren seiner Texte nicht loslassen kann. Diese Erzählungen zeigen, wie grausam jeder Krieg mit den Hoffnungen und Wünschen der Menschen umgeht und wie er sie zerstört. Damit haben die Menschen und sogar ihre Nachfahren noch lange zu tun. Krieg ist immer unmenschlich.

Erstmals 1995 veröffentlichte Heinz Kruschel im dr. ziethen verlag Oschersleben „Lamyz. Erzählungen“: Die insgesamt 16 Textes dieses Bandes entstanden in den Jahren 1986 bis 1995. In ihnen geht es um Leben und auch um den Tod, um Lebenssinn und Menschenpflichten, um Schuld und Unschuld, um Gerechtes und Ungerechtes und nicht zuletzt um die Gewissheit, dass Eulenspiegel und mit ihm der Schalk ausstirbt.

Wie der Autor selbst sagt, geht es in seinen Geschichten um die Sehnsucht nach Geborgensein, nach einer Heimat, die dort ist – wie Brecht sagt -, wo der Himmel höher, die Luft würziger wird, wo die Stimmen kräftiger schallen und der Boden sich leichter begeht.

Hier der Anfang der titelgebenden Geschichte, in der sich ein Junge an ein attraktives Mädchen wendet oder zumindest wenden will:

Lamyz

Hör’ mir zu, Cilly, du gefällst mir. Ehrenwort. Mir gefallen deine festen, langen Beine, dein schlanker Hals, der so weiß leuchtet, und manchmal dachte ich schon, wenn du tief einatmest, sprengten deine Brüste das enge Mieder, dass die Knöpfe abfallen würden. Und überhaupt, wenn ich dich sehe, nehme ich auch einen Duft wahr. Warum hast du keinen Freund? Wollen wir zusammengehen? Entschuldige, aber das nennt man so. Ich bin stolz auf dich. Wollen wir ins Kino gehen?

Diese Ansprache an Cilly habe ich mir zurechtgelegt. Jeden Tag änderte ich sie, sagte sie mir vor, dachte mir dazu aus, wie sie reagieren, was sie antworten könnte, ja, ob sie überhaupt antworten würde. Ich blieb feige.

Täglich sah ich sie nicht, weil sie in eine andere Schule ging und in einem anderen Stadtteil wohnte, dem altersgrauen Wendelitz, wo die Türme und Mauern noch aus Muschelkalk waren. Natürlich wusste ich, was sie mochte, Schwimmen und Paddeln zum Beispiel, ich kannte ihre Freundinnen und wusste, wo sie wohnte, in der Apotheke, die ihrem Vater gehörte.

Wenn sie mir begegnete, wurden mir die Innenflächen meiner Hände feucht. Nun kannst du ihr nicht mal die Hand geben, dachte ich und hatte wieder einen Grund gefunden, sie nicht ansprechen zu müssen. Cilly trug weiße Kniestrümpfe, die nur bis zu den Waden reichten, enge Blusen und die Haare lang. Cilly. Cilly Heinrichs.

So sah ich sie aus dem Kino kommen, in das ich sie eigentlich hatte einladen wollen. ‘Immensee’ war gespielt worden. Cilly ging vor mir, ich sah auf ihren weißen Hals und das leuchtende Haar. Von hinten konnte ich nicht kommen, sie überholen, vor ihr stehen bleiben und sagen, hör mir zu, Cilly, du gefällst mir. Im Kino hatten sie ganz andere Worte gefunden.

Manchmal lächelte sie mich an. Man hatte ihr von mir und meiner Schwärmerei erzählt. Ich lächelte zurück und tat so, als hätte ich eine sehr eilige Besorgung.

Aber dann begann ich, sie zu grüßen, und sie grüßte zurück und blickte mich lange an. Länger, als ich sie ansehen konnte. Diesen langen Blick musste ich nun aushalten, und genau das gelang mir nicht. Ich sagte mir: Erst wenn du den Blick aushalten kannst, darfst du sie ansprechen. In der Klasse spotteten sie schon, und auch ihre Freundinnen schienen um meine Wünsche zu wissen. Wie nur spricht man ein Mädchen an?

Der Zufall sollte mir zu Hilfe kommen. Oder war es nicht der Zufall. Ist das, was wir Zufall nennen, also das, was uns in den Schoß fällt, einfach endlich reif?

Fremde kamen in die Stadt. Sie stammten aus dem Rheinland und wurden Evakuierte genannt. Fast jede Familie bekam Einquartierung. Güterzüge trafen ein und brachten die vorausgeschickte Habe der Evakuierten, die noch kommen sollten. Die Züge mussten schnell entladen werden, sie wurden für den Transport von Waffen gebraucht. Die Habe wurde aufbewahrt. Dazu brauchte man uns, die Mädchen und Jungen aus den oberen Klassen, die Fünfzehn-und Sechzehnjährigen. Höhere Klassen gab es nicht mehr, die waren schon an den Fronten.

Also wurden Sack und Pack in der größten Turnhalle, die im Stadtpark lag, aufbewahrt, dem Alphabet der Familiennamen nach zusammengestellt und gestapelt, sodass man alles leicht finden konnte: Koffer, Schränke, Truhen und verpackte Kronleuchter, Bücherkisten und Bronzefiguren.

Wir bekamen die letzten Stunden schulfrei und mussten nachmittags nicht zum Dienst auf dem Feuerwehrplatz, um Runde für Runde zu marschieren, zu singen, zu hüpfen oder die Teile eines Karabiners auswendig zu lernen. Keine Zeit für diesen Dienst. Ich musste nicht meiner Jungenschaft, den zwölfjährigen Knaben, beibringen, wie man sich nach Kommando auf dem rechten oder linken Hacken zu drehen hatte.

Zu dieser Zeit näherten sich russische Truppen der Oder.

Es war kalt, und die Sirenen heulten täglich. Voralarm, Vollalarm, Entwarnung, Voralarm. Tag wie Nacht. In den Kellern hatten sich die Alten, Frauen und Kinder eingerichtet. Aber einen Voralarm nahmen nur noch die Ängstlichsten ernst. In den Kellern lebte man auf Tuchfühlung, den Kindern gefiel das.

In der Turnhalle traf ich Cilly wieder. Ich mag Turnhallen heute noch nicht. Dieser Geruch: eine Mischung von Schweiß, gerissenem Leder, Urin, beißenden Putzmitteln und tanzenden Staubflocken. Und diese auf mich bedrohlich wirkenden Geräte, die bulligen Pferde und Böcke, die sich einem in den Leib rammen konnten, die sperrigen Barren, die aalglatten Holzstangen, die immer höher wuchsen, wenn ich an ihnen hing, die schweren Medizinbälle, die mich zu Boden rissen, die harten Sprossenwände und das Reck erst, an dem mich der Turnlehrer in den Felgaufschwung knuffte.

In der Halle stapelten wir die Habe der Evakuierten, vorläufig konnte hier kein Sportunterricht stattfinden.

Wir holten die Sachen vom Bahnhof ab, brachten sie in die Halle und ordneten das viele Gepäck der Familien und bildeten dabei, der besseren Übersicht wegen, aus den Sachen Straßen, Winkel und Karrees. Da sah ich Cilly. Sie trug eine schwere Last und bewegte sich darunter so aufrecht wie auf der Straße, trug ihre weißen Kniestrümpfe, obwohl schon Frost war, und einen schwingenden Rock. Die meisten der anderen Mädchen hatten beulige Trainingshosen an. Das Haar hatte Cilly zu einem Zopf gebunden, die obersten Knöpfe ihrer strammen Weste waren geöffnet, das bemerkten leider die anderen Jungen auch und pfiffen ihr nach.

Es war schön, zu sehen, wie leicht sie sich bewegte, fast tänzerisch, dabei war die Last schwer, die sie trug. Aber vielleicht wurde die Last leichter, da sie von einem so schönen Mädchen getragen wurde.

„Du bist auch hier“, sagte ich endlich, als wir einander in einer der Gassen begegneten. Die Turnhalle hatte ihren Schrecken verloren, und ich hatte den ersten Satz gesprochen, einen wenig originellen Satz, zugegeben, aber immerhin, ich hatte es gewagt.

Cilly sah mich an und schlug wieder nicht die Augen nieder. Was hatte sie auch für einen Blick. Es soll Tiere geben, die mit Blicken ihre Opfer bannen können. Ich versuchte vergeblich, ihren Blick auszuhalten. Dabei strich sie mit langsamen Bewegungen ihren Rock glatt und betonte dabei ihre Schenkel. Der Rock wäre nach dem Geschmack meiner Mutter zu kurz gewesen, aber mir gefiel er, denn Cilly hatte lange, gut geformte Beine. Auch der Rock saß stramm. Sie war zu schön für mich. Dieses Mädchen konnte an mir keinen Gefallen finden, schlag’ sie dir aus dem Kopf. Aber wie denn nur.

Cilly war viel schöner als diese Elisabeth aus ‘Immensee’, die war zu elfenhaft und wenig körperlich.

„Es wird bald dunkel“, sagte sie, „ich gehe nicht gern allein durch den Stadtwald. Hast du schon einmal von den Edelweißpiraten gehört?“

Ich kannte einige Jungen gut, die heimlich unter dem Revers das Edelweiß trugen, alles Arbeiterjungen aus dem Ruhrgebiet. Ich fand sie nicht gefährlich. Man erzählte viel über sie. Dass sie Mädchen überfallen sollten, hatte ich allerdings noch nie gehört. Dass sie sich nachts in leeren Aschenkübeln versteckten, um auf SA-Führer zu schießen, davon sprachen selbst unsere Lehrer.

„Ich bringe dich natürlich nach Hause“, sagte ich.

Sie nickte lächelnd und schrieb die Listen mit den Adressen der Leute, deren Sachen wir stapelten. Sie schrieb in der kleinen Schrift einer Schülerin, die zur Klassenspitze zählte, ovale, schöne Buchstaben.

Wir aßen belegte Stullen und tranken Kräutertee in einer Ecke, die wir aus geflochtenen Körben, Kisten, einem eingepackten Schaukelstuhl und zusammengeschnürter Bettwäsche gebildet hatten, sogar ein ausgestopfter Tapir befand sich darunter.

Wir arbeiteten schweigend. Ich war bestrebt, sie wie ohne Absicht zu berühren. Unsere Ecke trug die Bezeichnung LA-MYZ. Das heißt, hier lagerten die Gepäckstücke der Familien von Labdakis bis Myzel. Ein Labdakise hatte zum Beispiel einen Dreiröhrenempfänger mit Lautsprecher eingepackt. Ich trug immer die schweren Sachen.

Allmählich, ohne uns abgesprochen zu haben, suchten wir raffiniert die Gepäckstücke heraus, die mit LA bis MYZ begannen. Es war eine Freude in mir, dass sie dem gleichen Gedanken folgte. Wir blinzelten uns zu wie Verschwörer. Hoch wie ein Silo, in dem man Schüttgut aufbewahrt, sollte unser Lamyz werden. Aber wir waren nicht die einzigen. Mancherorts hörte man es kichern, wispern, flüstern und knutschen. Das stieß mich ab.

Cilly gehörte nicht zu den Mädchen, die oft krampfhaft versuchen, ihren Rock über die Knie zu ziehen. Sie saß auf dem dicken Seesack des Obermaats Lukrez, das heißt, sie hockte auf ihren Fersen und aß. Runde Knie, glänzende braune Schenkel, eine Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte und die sich nicht zurückpusten lassen wollte, und diese großen, hellen Augen. Sie verwirrten mich am stärksten. Ihr Blick schien alles aus mir herauszuholen, so ein Gefühl hatte ich, sie musste ja längst mein Geheimnis und meinen sehnlichen Wunsch kennen. Diese Augen wirkten frech auf mich. Zuerst machten sie mich unsicher, aber dann fiel mir Herrisches in ihrem Blick auf, etwas Herausforderndes, so wie bei einem Kinde, das schwer zu halten ist und sich etwas ertrotzen möchte, und das genau weiß, dass es siegen wird. Cilly, Cilly, deine Augen, ich hatte noch nie solche Augen gesehen, noch nie ein solches Mädchen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1984 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Francisco Pizarro“ von Volker Ebersbach: War dieser Mensch eigentlich ein geeigneter Gegenstand für eine Biografie, in der ansonsten von Helden die Rede ist? Francisco Pizarro war keiner jener „Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit“, wie sie, so schrieb Friedrich Engels, das Zeitalter der Renaissance hervorbrachte. Er war nur ihr schwacher Widerschein.

Sein Ziel waren Oro y gloria, Gold und Ruhm. Darum kämpft der rücksichtslose Machtmensch – mit großer Entschlossenheit und Ausdauer, mit List und Verschlagenheit, aber auch mit großer Brutalität und Gewalt vor allem gegen die beim Eindringen der Europäer in Süd- und Mittelamerika anfangs noch arglosen Indios, aber auch gegen Rivalen eigenen spanischen Blutes. Und so lohnt es sich trotzdem, den Spuren seines Lebens zu folgen, die es seinem Biografen nicht leicht gemacht haben. In seinem Buch begegnen wir Pizarro das erste Mal, als er schon ein alter Mann geworden war, aber noch nicht am Ziel seiner Wünsche:

I. Späte Pläne

Das größte Geschehnis nach der Erschaffung der Welt, und wenn wir absehen von Geburt und Tod Dessen, Der sie schuf, ist die Entdeckung der indischen Länder.

Der Chronist Francisco López de Gómara in einem Brief an Kaiser Karl V.

Die Entdeckung und Eroberung des Inkareiches war die Tat eines Mannes zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Wer wie Francisco Pizarro als junger Mann nach Amerika gekommen ist und in der Hoffnung, hier schnell reich zu werden, getäuscht wurde, wer es dann in zwei Jahrzehnten harten Militärdienstes doch noch zu einem einträglichen Landgut auf blutgetränkter Erde bringt, der könnte sich eigentlich bescheiden, der sollte froh sein, dass ihn weder Fieber noch Hunger noch Ungeziefer haben umbringen können wie so viele arme Wichte, die mit ihm herübergekommen sind, dass ihn kein indianisches Geschoss in all den Scharmützeln tödlich getroffen hat.

Aber der Pflanzer vom Rio Chagre nahe der Stadt Panama ist unzufrieden und unruhig. Er ist bereit, seine Estancia mit allen Plantagen, allem Vieh und allen Indiosklaven aufzugeben für ein Schiff und ein Häuflein entschlossener bewaffneter Männer, um mit ihnen auf dem Pazifik südwärts zu segeln und das Land zu finden, in dem er mehr Gold vermutet, als je „in den Indien“ gesehen wurde.

Pizarro kennt alle Strapazen und Gefahren einer derartigen Expedition. Er weiß, dass er die Bequemlichkeit des luftigen Landhauses mit einer engen Schiffskoje und feuchten Biwaklagern, mit beschwerlichen, erschöpfenden Märschen vertauschen muss. Er weiß, dass er statt Fleisch und Maisbrot lange nur Zwieback und Dörrfisch wird essen können. Er kennt den Hunger, dem ihn und seine Gefährten die geringfügigste Verzögerung ausliefert, und all seine physischen und psychischen Auswirkungen auf die Mannschaft. Er hat viele Männer begraben, er kennt die Namen Verschollener. Er ist neunundneunzigmal davongekommen; wer garantiert ihm das hundertste Mal?

Doch nichts betreibt der Hauptmann, dem das Behagen unbehaglich ist, eifriger als diesen fragwürdigen Tausch. Was er hat, gilt ihm wenig gegen das, was er haben könnte: ein Land, von dem ein Kazike, allerdings in sehr verschwommener, ausgeschmückter Rede, einmal erzählt hat. Es könnte ein Wahnbild sein, das Pizarro verfolgt. Sein Unternehmen könnte mit einer qualvollen Katastrophe enden wie jeder Versuch bisher, auf der Tierra firme, dem südamerikanischen Festland, südwärts vorzudringen.

Was treibt diesen alternden Mann, der mehr als eine trügerische Hoffnung hat platzen sehen, zu diesem nicht nur mutigen und kühnen, sondern geradezu tolldreisten Vorhaben? Woher nimmt er die Unerschütterlichkeit des Willens, mit dem er aus ungenügenden Mitteln und unzuverlässigen Leuten einen überwältigenden Erfolg zu schmieden gedenkt?

Der Hauptmann Francisco Pizarro verlässt im Morgengrauen seine Estancia, er reitet in die Residenz Panama, um dort seine Pläne voranzutreiben. Über die Ungeschicklichkeit des indianischen Sklaven, der ihm das Pferd gesattelt hat, ist er schweigend hinweggegangen. Einer alten Indianerin, die beim Füttern der Hundemeute in den Arm gebissen wurde, hat er eigenhändig die Wunde ausgewaschen und verbunden. Er kann das hier am besten. Sein Eigentum behandelt man pfleglich. Spätere Bewunderer werden es ihm, wenn sie über seine Taten berichten, als Güte und Großherzigkeit auslegen.

Der Hauptmann hält sich im Sattel sehr gerade. Er ist hoch gewachsen und schmal, aber kräftig in den Schultern, die geübt sind im Schwingen eines Schwertes. Gern verweist er darauf, dass er diese Statur von seinem Vater geerbt habe, dem adligen Majoratsherrn Gonzalo Pizarro, der, wie ein Landsmann berichtet hat, vor zwei Jahren zu Pamplona verstorben ist. Sonst hat Don Gonzalo ihm nichts vererbt. Alles bekam Hernando Pizarro, der einzige eheliche Nachkomme des Obristen, auch den Adelsbrief. Manchmal hadert Francisco Pizarro mit den Gesetzen, die ihm, da eine Bäuerin ihn geboren hat, den Adel absprechen, obwohl die Natur ihm Haltung und Charakter eines Edelmannes gegeben hat.

Den schmalen Schädel des Hauptmanns bedeckt ein leichtes, helles, luftiges Barett, dessen Rand schräg über der hohen, gewölbten Stirn sitzt. Dunkle, tief in den Höhlen und dicht unter den Brauen liegende Augen und eine lange, schmale, gebogene Nase geben seinem Blick die scheue, aber unablässige Wachsamkeit des Habichts. Ein paar Haarsträhnen schimmern schon grau; der Bart ist noch schwarz. Dicht teilt er sich über schmalen, fest geschlossenen Lippen, leicht gewellt fällt er aufs schwarze Wams. In den Steigbügeln lange, sehnige Beine; schwarz glänzen Stiefel und Hosen auf dem schweißfeuchten Fell der Fuchsstute. Auf seinem Gesicht liegt die Starre nüchterner und leidenschaftlicher Überlegungen. Die scharfen Falten über der Nasenwurzel sind Spuren beständigen Pläneschmiedens.

Der Hauptmann lässt sich von drei Berittenen eskortieren, die Lanzen und Arkebusen geschultert haben. Auf ihren Harnischen und auf ihren Helmen, den spanischen „morriones“ mit ihren hohen Kämmen und den halbmondartig geschweiften Krempen, blitzt die tropische Morgensonne. Pizarro besteht auf dieser Eskorte mehr seines Ansehens wegen. Die Gegend ist befriedet. Das bedeutet: entvölkert im Umkreis eines Tagesrittes. Man wird auf dem Weg in die Residenz nur weißen Siedlern und Indios in Halseisen begegnen.

Pizarro täuscht sich allerdings nicht über die Gesinnung mancher dieser Siedler ihm gegenüber. Viele können ihn nicht leiden, manche behaupten noch immer, er habe vor Jahren seinen besten Freund verraten, den Mann, dem er im Grunde alles verdanke, was aus ihm in der Neuen Welt geworden ist: Vasco Núnez de Balboa. Noch immer gilt Balboa als großer und gerechter Mann, der seinem König unschätzbare Entdeckerdienste erwies und eine ganze Generation trefflicher Eroberer erzog, aber den Ränken heimlicher Beutemacher erlag, die immer den offenen Kampf scheuen und sich hinter den Schreibpulten der Kanzleien bereichern. Wer den Adelantado Balboa, den Entdecker des Südmeers, der als erster Europäer die Landenge von Panama überquert hat, je achtete oder liebte, den muss es außerordentlich irritiert haben, dass es der Hauptmann Pizarro war, der ihn im Auftrag des Statthalters verhaftete. Solche Leute muss Pizarro mit seiner Eskorte einschüchtern.

Tatsächlich hat Pizarro diesem Balboa viel zu verdanken: die tausend kleinen Schliche, mit denen man im Urwald überlebt, die Listen des Dschungelkrieges und die raffinierte Diplomatie gegenüber Stämmen, die der Verständigung zugänglich sind. Sie bringt auf die Dauer mehr ein als Überfälle, Brandschatzungen, Folterungen, Massaker. Sie brachte am Ende des Marsches über die Sierra auch eine Nachricht von unschätzbarem Wert ein: die Aussage des Kaziken Tumaco, dass man ein bergiges Land mit steinernen Städten und unermesslichen Goldschätzen finde, wenn man der Küste des Südmeers südwärts folge.

Erstmals 1999 erschien Hans Boldt Literaturverlag GmbH Winsen/Luhe und Weimar „Die Weinreisen des Dionysos“ von Volker Ebersbach: Dionysos ist als Weinbringer bekannt, auch als Bacchus, wie ihn die Römer nannten. Weniger bekannt sind die in einander oft widersprechenden antiken Dichtungen überlieferten Abenteuer des schönen Jünglings Dionysos, insbesondere bei der Verbreitung der Rebe und des Weines. Volker Ebersbach hat diese Überlieferungen in den Ablauf einer Handlung in eine Fabel gebracht, beginnend mit der Zeugung des Dionysos durch den Göttervater Zeus, von einer Lebensstation zur anderen bis zu seinem irdischen Tod und seiner Erhebung in die Unsterblichkeit.

Entstanden sind unglaubliche, pralle Schilderungen der mythischen Ereignisse. Im Mittelpunkt steht der Wein, wir lesen von der ersten Rebe, der ersten Kelter und dem Ungemach, das den Menschen zunächst das köstliche, aber ungewohnte Getränke bereitete. – Die alten Götter der Griechen werden in uns wieder lebendig. Hier der Anfang dieses spannenden Buches einschließlich einer notwendigen Erläuterung des Autors zum Charakter seines Buches:

„Für Ariadne

Vorbemerkung

Was hier erzählt wird, ist sowohl mythisch als auch romanhaft. Fast alle Abenteuer des Weinbringers Dionysos, den die Römer nach seinem anderen griechischen Namen Bakchos auch Bacchus nannten, sind so oder ähnlich in antiken Dichtungen überliefert worden. Die verstreuten, zersplitterten, bruchstückhaften, einander oft widersprechenden Quellen auszuwählen, das Überlieferte in den Ablauf einer Fabel zu bringen, von einer Lebensstation zur anderen überzuleiten, die Details der Handlung auszugestalten – das hat allerdings schon etwas Romanhaftes. Das kann nicht anders sein, weil Dionysos, bevor er ein Gott wird, ein irdisches Schicksal lebt, das Schicksal eines Sterblichen. Gegen das Ende hin, vor dem Märtyrium und der Vergöttlichung des Dionysos, überwiegt, weil die Quellen einander darüber heillos widersprechen, ein dem freien Erfinden nahes Jonglieren mit Überliefertem. Von seinem mythischen Schicksal weicht das Erzählen dennoch nirgends ab. Darum ist dieses Buch ein mythischer Roman. Er wählt aus der Überlieferung das Zumutbare aus. Wer den Mythos des Dionysos näher kennt, weiß auch um weitaus Grausameres, Entsetzlicheres, das die Grenzen unserer Vernunft weit hinter sich lässt.

  1. 1. Kapitel: Semele

Die Schatten wuchsen. Wind zerblies die Schwüle des Mittags. Handwerker und Händler lärmten wieder in ihren Gewölben. Feuer prasselten, Ambosse klingelten. Ausrufer weckten Hunde. Ein Esel schrie unter zu schwerer Last. Lauter rauschte über seine Kiesbänke der klare Ismenos. Frauen klatschten singend Wäsche auf Steine. Schärfer und dunkler wuchsen die Mauern der königlichen Burg Kadmeia gegen die blauen Höhen des Kithairon. Giebel und Galerien, Zinnen und Säulen lagen in greller Sonne. Theben, die Stadt des Königs Kadmos, erwachte zum zweiten Mal. Da knarrten die ehernen Flügel des Burgtors. Ein zweirädriges Gespann rollte zwischen Blumengehängen und Marmorbildern zur Stadt hinab und zu einem der sieben Tore hinaus. Beamte und Krieger, Kaufleute und Bettler grüßten Semele, die Tochter des Königs. Veilchenfarben gewandet, ein Stirnband aus Efeu im rotblonden Haar, hielt sie die Rappen am Zügel. Sie nickte nach allen Seiten. Die Rosensträuße der Spartoi, der vornehmen jungen Männer, fielen zurück in den Staub.

Zwischen Lorbeerbüschen und Myrtenhecken ließ sie den Tieren Ruhe. Feigen, Birnen, Granatäpfel leuchteten im Laub der Gärten. Datteln hingen in honigfarbenen Büschen aus dem Schatten der Palmwedel. Aus verdorrtem Gras schraubten sich Ölbäume. In ihrem Schatten weideten Rinder, Schafe und Ziegen. Bauern kehrten mit Bündeln von Erbsenstroh heim von den Feldern. Tief verneigten sie sich vor seltsamen Felsengebilden, aus denen überall Wasser in stadtwärts führende Rinnen sprudelte. In die Wipfel spießten korbförmig riesige Rippen, Gliedmaßen lagen verstreut wie von Giganten verlorene Keulen, Schwanzwirbel lagen, kleiner und kleiner, in weiträumigem Halbrund, seitab biss, von Sommern gebleicht, ein Schädel in den Sand, an Kiefern und Stirn umgeben von Auswüchsen, einem Kranz aus Wülsten, Hörnern und muschelförmigen Schaufeln: Das Skelett des Drachens, den Kadmos vor der Gründung der Stadt getötet hatte. Sein Fleisch war ohne Verwesung zu Staub zerfallen. Kein Geier hatte je über der Stätte gekreist.

Doch heute gewahrte Semele hoch in den Lüften einen Adler. Mit ausgebreiteten Schwingen schien er im Himmel zu schwimmen. Auch die Kinder, die schreiend durch die Höhlen des Schädels getobt waren, standen auf einmal still und schauten nach oben. Vor einem Jahr noch hatte die Königstochter sich an dem Spiel beteiligt, das die Kinder „Drachensaat“ nannten: Sie kauerten sich in die Zahngruben des Kiefers und schauten zu, wie der älteste Junge, Darsteller des Königs, in einem Tanz mit hölzernem Schwert dem Drachen gleichsam das Haupt abschlug. Zu seinem Siegesruf sprangen sie aus ihren Löchern und verwandelten sich aus Drachenzähnen in die Spartoi, die Vornehmen Thebens, ihre eignen Väter. Einen von ihnen sollte Semele heiraten. Ihr graute vor den jungen Männern, die so stolz darauf waren, dass sie von diesem Scheusal abstammten. Auch das Kind, das sie empfinge, würde zur Drachensaat gehören.

Da schien ihr, als wäre ein Auge des Adlers aus schräggeneigtem Federkopf auf sie gerichtet wie in dem Traum, der sie vom Mittagslager aufgeschreckt hatte. So sah sie das Traumbild wieder: Ein Bäumchen wuchs aus ihr, im Laub dem Efeu ähnlich, der jetzt ihr Stirnband schmückte, doch größer und von hellerem Grün, und funkelnd von Tau schwollen darunter längliche Beeren, geformt wie Oliven und Datteln, in üppigen Trauben. Aus sich verdüsterndem Himmel fuhr plötzlich mit peitschendem Knall ein Blitz in das Bäumchen und spaltete es. Doch an dem verkohlten Stämmchen, zwischen zerfetzten Blättern hing unbeschädigt die Traube, und ein Adler, größer als alle, die das Kithairongebirge bewohnten, stieß nieder, golden der Schnabel, bernsteinfarben das Auge, pflückte die Traube und trug sie hinauf in den aufklarenden Äther.

Der Wagen der Freundinnen und Dienerinnen, von Maultieren gezogen, holte Semele ein. Wo der Asopos aus dichtem Gehölz in den Ismenos mündete, wichen die ausladenden Wipfel der Steineichen zurück, weitete sich das Ufer zu einer Sandbank. Widerhallende Felswände stauten den Fluss gegenüber. Semele streifte als erste die Kleider ab und warf sich ins Wasser. Das gelöste Haar fächerte sich auf den Wellen. Ihre Arme teilten das Spiegelbild regloser Wälder. Eine Freundin flüsterte: „Wie Aphrodite!“

Ein Schatten glitt über die Wellen. Der Adler ließ sich auf der Felskante nieder, faltete herrisch die ungewöhnlich mächtigen, rostfarbenen Schwingen. Golden blinkte sein Schnabel. Seine Bernsteinaugen richteten sich auf Semele. „Der Adler des Zeus!“, rief eins der Mädchen am Ufer. Da hob er wieder die Flügel und stieg in die Lüfte.

Die Freundinnen waren erschrocken in ihren Wagen gestiegen und eilends den Mauern von Theben entgegengefahren. Semele ließ ihren Rappen Zeit, doch ihr Atem ging schnell. Ihre Haut wurde kalt in der Frische des Abends.

Unter dem Drachengerippe holte sie einen Wanderer ein. Als er sich umsah, legte sein rostfarbener Bart sich wirr auf den staubigen Mantel und auf den Reisesack. Unter der welligen Krempe des Hutes spielte der Wind mit bräunlich glänzenden Locken. Semele straffte die Zügel und hielt. Mit federndem Schritt trat der Unbekannte ihr näher.

„Sag, schöne Wagenlenkerin, welche Stadt liegt da vor uns?“

„Es ist das siebentorige Theben.“

„Sind die Mädchen hier alle so scheu?“

„Ich bin die Tochter des Königs und habe nur Götter zu scheuen.“

„Und welche Bewandtnis hat es mit diesem schauderhaften Gerippe?“

Semele lachte: „Hörtest du nie von Kadmos, dem König? Er kam aus Phoinikien. Als er hier seine Stadt gründen wollte, lag auf der Quelle lang und gebläht und Missfarben ein Drache, ein grässlich missratener Sprössling des Kriegsgottes Ares. Sein Wanst ragte mit schwankendem Kamm auf wie ein Gebirge. Grünliche Funken versprühten die Augen in hornigem Auswuchs, sengende Flammen die Nüstern. Schwarz schoss die giftige Zunge aus einem Maul voll schartiger Zähne. Mein Vater schlug ihm den Kopf ab.“

„Erstaunlich!“ sagte der Wanderer. „Ich liebe den Zweikampf. Wie das wohl ablief?“

„Kennst du die Schrift, die Kadmos aus Sidon nach Griechenland brachte?“

„Schriftkundig bin ich.“

„So frag im Büchergewölbe! Mein Vater ließ alles auf Schriftrollen setzen.“

„Erlaubst du wohl“, bat der Wanderer, „dass ich aufsteige? Noch heute will ich das lesen!“

Semele erlaubte es gern. Denn der Fremde gefiel ihr mehr als alle Männer von Theben. Sie spürte die Wärme des Mannes. Der Staub vieler Straßen hing ihm im Mantel und an den Sandalen. Und doch ging ein Wohlgeruch von ihm aus. Sooft er sie ansah, wurden die Augen licht und weich wie der Himmel im Frühling.“

Erstmals 2012 veröffentlichte Volker Ebersbach im VentVerlag Andreas Vent-Schmidt Leipzig „Die letzte Fahrt der Württemberg. Erzählungen, Erinnerungen“: Memoiren im strengen klassischen Sinne sind diese kürzeren und längeren Texte nicht. Dennoch liefern sie aufschlussreiche Einblicke in die Lebensgeschichte des Menschen und Schriftstellers Volker Ebersbach und zeigen zugleich ein spannendes Stück Zeitgeschichte aus fast fünf Jahrzehnten in Deutschland und anderswo – von 1942 bis 1989.

Volker Ebersbach zählt zu den bekanntesten ostdeutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit. In diesem autobiografischen Band erinnert sich der große Erzähler und Essayist an prägende Erlebnisse und wichtige Menschen aus seinem Leben, plaudert dabei vom kindlichen Perspektivwechsel an der Tischkante, reflektiert über die Poesie von Eisblumen, ermittelt Bernburg als Heimat von Till Eulenspiegel, erzählt von seiner Verhaftung durch den polnischen Geheimdienst, dem Ende des stolzen Elbdampfers „Württemberg“ und lässt den Leser an zahlreichen weiteren Anekdoten und denkwürdigen Begegnungen teilhaben – oft mit subtilem Humor, aber immer mit berührender Offenheit. Lesen wir die gleichnishafte Titelgeschichte:

"Die letzte Fahrt der „Württemberg“

Es scheint, dass der brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernstnimmt.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Sie war ein schönes, stolzes, schwarzes Schiff, ein Raddampfer, und rauchte aus zwei schlanken Schloten, die sich bei der Durchfahrt unter Brücken abkippen ließen. Sie rauchte nicht, sie schmauchte. Mit der Strömung fuhr sie gemächlich die Elbe hinab. Der Strom führte genug Wasser; die „Hungersteine“ bei Meißen waren lange nicht gesehen worden. Der halb zerfallene Giebel des Gohrisch–Gutes lugte aus dem Holunder eines verwilderten Obstgartens. Kornfelder hingen wie gelbe Zungen in das sommerlich dunkle Grün. Ohne eine einzige Zille, ohne Bürde und mit viel Würde folgte sie dem großen Bogen des Flusses zwischen Zehren, Diesbar und Seußlitz. Weinberge und Streuobstwiesen, mit Kiefern bewaldete Höhen und porphyrfarbene, schroffe Felswände, die Steinbrüche hinterlassen hatten, schwiegen sommerlich und beinahe ehrfürchtig zu dieser Sehenswürdigkeit, zur letzten Fahrt der großen alten Dame der deutschen Flussschifffahrt, der „Württemberg“. Irgendwann hatte sie auch Zillen gezogen, mit frischgebrochenem Naturstein aus den Porphyrbrüchen beladen. Es war in den Siebzigerjahren, um die Mitte der Mauerzeit.

Hinter ihr lag eine bewegte Geschichte. Elbschlepper rauchten nur aus einem Schlot. Eigentlich war der Rhein ihre Heimat. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Amerikaner sich diesem Strom näherten, hatten, so ist es mir dann erzählt worden, der Kapitän und die Mannschaft das Schiff mit seinen zwei schmauchenden Schornsteinen und seinen zwei gewaltigen Schaufelrädern rheinabwärts bis zur Mündung gesteuert. Die „Württemberg“ war bei ruhiger Nordsee die Friesischen Inseln entlang bis nach Cuxhaven gedampft und am bombenverwüsteten Hamburg vorüber in die Elbe eingelaufen, war, dafür eigentlich etwas zu groß, ein Elbdampfer geworden. Die damals noch gar nicht so alte Dame war zwar dem Ami entkommen, aber dem Russen in die Hände gefahren und dann ins „Volkseigentum“ des Arbeiter- und Bauernstaates übergegangen.

Am Abend zeigten mir Fernsehnachrichten das Ziel ihrer letzten Fahrt: Die „Württemberg“ war in Magdeburg angekommen. Auf der Werft der Elbestadt sollte sie nicht etwa repariert, sondern in handliche Stücke zerlegt werden: Sie wurde abgewrackt. Mehr wusste man mit ihr nicht anzufangen. Wie in fast allen Dingen hatten die Materialisten ein sehr gespanntes Verhältnis zur Materie. Aber schon der Name des kostbaren Stückes hatte nicht in die Zeit gepasst: Ihre Geschichte verband zwei deutsche Ströme, die Elbe und den Rhein. Doch seit dem Mauerbau, seitdem das Vaterland ein sozialistisches sein sollte, gehörte Württemberg nicht mehr zum Vaterland.

Immerhin: Sie war mit eigener Kraft ihrem Ende entgegengedampft. Die Römer hatten in den drei Kriegen des großen Karthago, auf die sich Brecht noch einen Vers zu machen wusste, die Seefahrt lernen müssen, und sie verglichen ihren Staat gern mit einem Schiff. Als das Staatsschiff der DDR sein Ziel erreichte und nicht mehr repariert werden konnte, fiel mir die Szene ein, wie diese große alte Dame, das Dampfschiff, schon weit im Zeitalter der Dieselmotoren kaputt und des Schleppens müde, bei Diesbar und Seußlitz den weit geschwungenen Elbbogen hinabglitt, wie um sich noch einmal großartig zur Schau zu stellen. Und dann hörte ich auf einer Tagung den Literaturkritiker Alexander von Bormann den bedenkenswerten Satz sagen: „Die DDR war neunzehntes Jahrhundert mit Elektrizität.“

Da wurde ich mir selbst zum Mythos.

Doch was wird aus dem dritten Jahrtausend ohne Elektrizität?“

Schlussgedanke

Jeder geht seinen Weg: Jeder geht seinen Weg auf den Planken eines Schiffes, ohne zu wissen, wohin es fährt.

Erstmals 1997 erschien als Sonderdruck aus Kultur und Mythos, Beiträge zum Projekt „Dichtung und Erfahrung – Mythen als Mittel der Verständigung“. Herausgegeben von Georg Schuppener und Reiner Tetzner. Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e.V. Leipzig „Der Wille der Götter. Mythos, Priester und Macht, Legitimationsfragen“ von Volker Ebersbach: Diese Untersuchung verfolgt die religions- und kirchengeschichtlichen Zusammenhänge zwischen dem Götterglauben der Menschen und seine Funktionalisierung für die Macht der Priesterkasten, der „geistlichen Macht“, und ihren Einfluss auf die „weltliche Macht“. Der Text enthält Ausschnitte aus dem bisher unveröffentlichten Werk „Neue Briefe über die Menschlichkeit“. Hier der Anfang der gelehrten Untersuchung, in der übrigens auch noch einmal von Dionysos (und seiner Verwandtschaft mit Christus) die Rede ist:

“Der Wille der Götter

Mythos, Priester und Macht, Legitimationsfragen

I.

Dem Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. sage ich zu allererst Dank für die Gelegenheit, hier über ein Thema zu sprechen, das mich seit langem beschäftigt.

Was ich heute vortrage, sind Grundzüge eines geschichtsphilosophischen Problems, thesenartige Vorstellungen über die Rolle, die Mythen und deren Priester für die Ausübung von Macht in allen Zeiten gespielt haben. Sie selbst werden Synapsen zu denkbaren anderen Vorträgen bemerken. Ich möchte Sie mit diesen umrisshaften Thesen, deren genaue Ausführung ein Buch ergeben würde, in ein Gespräch führen, in das jeder von Ihnen seine Kenntnisse und seine Sicht des Mythischen – erweiternd oder korrigierend – einbringen möge.

Es ist in diesen Überlegungen unumgänglich, alles Konfessionelle beiseitezulassen, jegliche Religion als Mythos zu behandeln, unabhängig davon, ob Sie oder ich bestimmte, heute von Glaubensgemeinschaften anerkannte Glaubensinhalte akzeptieren oder nicht. Jeder Mythos ist ein Gebilde des Glaubens, unabhängig vom Glauben oder Nichtglauben einzelner Personen und Gruppen. Wir sind gewohnt, nur das als Mythos gelten zu lassen, was keine praktizierende Gemeinde mehr hat, oder die jeweils andere Religion als Mythos zu verunglimpfen. An die olympischen Götter der Antike glaubt heute so wenig noch jemand wie an die altorientalischen oder ägyptischen oder an die indianischen – abgesehen von synkretistischen Bestrebungen in Lateinamerika. Aber da haben wir es schon: Der Siegeszug der monotheistischen Religionen ist keineswegs eine ausgemachte Sache. Juden werfen den Christen mit einigem Recht vor, mit der Lehre von der Dreifaltigkeit gegen das monotheistische Prinzip zu verstoßen, der Islam wie der Protestantismus haben mit ebenso viel Recht im Marienkult und in der Schar katholischer Heiliger eine heimliche Auferstehung des heidnischen Olymp erkannt, und im Hinduismus ist ein heute noch lebendiger Polytheismus zu beobachten, wie man ihn sich bunter im Altertum nicht vorstellen kann. Bedenken wir, wie viel antike Religiosität ins Christentum eingeflossen ist! Christus ist ja nicht der einzige Göttersohn. Auch Herakles, Theseus, Perseus, Aeneas, Dionysos sind Göttersöhne. Die frühchristlichen Gemeinden in der hellenistischen Welt bekamen Zulauf von Leuten, die schon an Göttersöhne geglaubt hatten, aber an ihrer Aushöhlung durch eine korrupte und gewalttätige Gesellschaft und ihren Missbrauch durch den römischen Kaiserkult irregeworden waren.

Einzigartig wird Christus nur durch die Einzigkeit seines göttlichen Vaters. Als Erlöser von irdischen Sorgen, als sanfter Sieger, mit der Symbolik des Weines und der blutigen Marter, die seiner Apotheose vorangeht, ist gerade Dionysos eine Gestalt, deren Verwandtschaft mit Christus nicht unterschätzt werden darf. Der nackte, fette, trunkene Bacchus ist nur das, was von ihm übrig blieb, nachdem sympathischere Erscheinungsbilder in die Christusgestalt eingeflossen sind. (Doch dem gilt eine andere Untersuchung.) Bedenken wir auch, wie viel platonische Philosophie das Christentum übernommen hat! Ein wirklich religiös empfindender und denkender Mensch wird niemals auf den Dogmen einer einzigen institutionalisierten Religion bestehen. Er wird die Gottesvorstellungen, die von Menschen hervorgebracht worden sind, als verschiedene Fenster betrachten, aus denen jedes Zeitalter, jedes Volk, jede Religionsgemeinschaft ihren Blick aus dieser Welt in eine andere geworfen hat. Darin waren die Menschen der Antike Meister: Sie nahmen, wenn sie andere Völker und Kulturkreise kennenlernten, neugierig jede neue Gottheit in ihre Kulte auf und errichteten, um ganz sicher zu gehen, in Rom auch „dem unbekannten Gott“ einen Altar, ohne damit, wie es eine christliche Interpretation gern sähe, den eifersüchtigen und „einzig wahren Gott“ der Bibel zu meinen. Das eigene Fenster – die Religion, womöglich die einzig wahre – und alle anderen nur Mythen? Ein wahrhaft religöser Mensch wird versuchen, auch durch andere Fenster zu schauen. Lessings Ringparabel lässt grüßen! Tief empfundene Religiosität macht tolerant. Intolerant sind nur Frömmler und Atheisten.

II.

Denken Sie sich zwei Menschen in vorgeschichtlicher Zeit, voll des Erstaunens über das Wirken der Natur und den gestirnten Himmel. Dieses Erstaunen nennt schon Aristoteles den Ursprung religiösen Empfindens. Der eine staunt und empfindet, der andere, intellektuell überlegen, staunt und empfindet auch, beobachtet aber seinen Nachbarn und erkennt, dass mit solchen Anwandlungen etwas anzufangen ist. Er kann ihn – zunächst gewaltlos – zu einem nützlichen Glauben führen, der dem Gemeinwohl zugutekommt.

Es gibt aber auch einen Häuptling oder Stammesfürsten, Inhaber des Gewaltmonopols wie heute der Staat, der die notwendige Disziplin unter Umständen mit Gewalt durchsetzt. Keiner erleidet gern Gewalt. Jede Ausübung von Gewalt bedarf einer Legitimation. Derjenige der beiden Erstaunten, der seine Ergriffenheit reflektieren und instrumentieren kann, erkennt die Chance, das Handeln des Mächtigen durch Erklärungen, aus denen Vorschriften werden, als Willen der Götter zu interpretieren. Er hat auch ein Interesse daran: Sein Angebot, das Gewaltmonopol des Herrschenden zu legitimieren, verschafft ihm selber Schutz vor Gewalt und andere Privilegien.

Hier beginnt ein Vertragsverhältnis zwischen Priester und Häuptling, in dem der Glaube selbst zweitrangig wird. Von hier an ist die Priesterbrust gespalten in den Glauben und die intellektuellen Strategien seiner Instrumentalisierung. Am Ende der Entwicklung steht der zynische Ideologe, der selbst nichts mehr glaubt und die Massen in Bann schlägt. Jede Betrachtung von Mythos und Religion muss den Glauben von seiner Institutionalisierung trennen. Denn mit der Institutionalisierung beginnt die Möglichkeit zur Instrumentalisierung.

Jedem, der über religiöse Inhalte, ihre Verwalter – die Priester – und die Ausübung von Macht nachdenkt, drängt sich also der Gedanke auf, dass da ein unaufhebbarer Zusammenhang besteht. Mein Grundgedanke ist: Die religiösen Erlebnisse von Menschen werden unabhängig von ihrer „Echtheit“, ihrer subjektiven Authentizität, von Priestern instrumentalisiert. Priester glauben oder geben vor, den Willen der Götter zu kennen. Sie verwalten Mythen und stellen Machthabern eine göttliche Rechtfertigung ihres Machtanspruchs zur Verfügung: Eine Macht, die nicht von allen anerkannt wird, bedarf einer über allen stehenden Legitimation. Sie konnte lange Zeit nur im Willen göttlicher Wesen bestehen.

Die Verwirklichung eines Machtanspruchs ist auf der untersten Stufe der Zivilisation immer mit Gewalt verbunden. Gewalt verteidigt den Machtanspruch einer Gruppe oder einer Person gegen jede Opposition, gegen andere Machtansprüche. Das Verhältnis von Macht und Legitimation ist immer eine Frage von Macht und Gewalt, eine Frage der Legitimierungen – der Plural ist bewusst gesetzt – von Gewalt. Macht selbst braucht sich eigentlich nicht zu legitimieren. Man hat sie oder man hat sie nicht. (Die SED verlor 1989 nicht etwa die Macht über uns, sondern nur – die Gewalt. Die Macht hatten längst andere.) Der gesunde Menschenverstand sagt: Die Macht gebührt dem Besseren. Im Tierreich ist es der Stärkere. Die Platzkämpfe von Hirschen oder Gorillas sind ein Wetteifern um die Führung des Rudels und um die Weitergabe der günstigsten Gene an die Weibchen bei der Fortpflanzung. Dass es mit der Macht des Stärkeren in menschlichen Gesellschaften eine heikle Sache ist, lehrt die Weltgeschichte. Man kann sich einen Vertrag vorstellen, in dem eine Minderheit von Stärkeren sich verpflichtet, die Mehrheit Schwächerer vor anderen – Stärkeren – zu schützen und dafür Privilegien beansprucht. Dies wäre – anders als bei Rousseau – der ursprüngliche, eigentlich wirksame und daher zu allen Zeiten geltende Gesellschaftsvertrag, ein durchaus undemokratischer Vorgang, bei dem sich die Kriegerkaste als ein Adel gegenüber Bauern, Handwerkern und Händlern abhebt und sich über sie erhebt. Sie bedient sich dazu, wenn jemandem ihr Rang zweifelhaft wird, wie in Tierrudeln oder in der Urhorde nur der rohen Gewalt.“

Und wieder sind wir bei der Frage angelangt: Was treibt Menschen an? Was sind die Motive ihres Handelns? In den Sonderangeboten dieses aktuellen Newsletters finden sich vielfältige Antworten auf diese existenziellen Fragen, die sich zugleich jede Leserin und jeder Leser selbst stellen kann. Was ist mir wichtig? Wie ist es dazu gekommen, dass ich dieser oder jener Situation so oder so und nicht anders gedacht und gehandelt habe? Und damit bestätigt sich der Verdacht, dass gute Bücher mehr sind als ein bloßer Zeitvertreib, sondern oft genug auch Lebensmittel im besten Sinne des Wortes. Mittel, das Leben zu meistern. Viel Vergnügen beim Lesen und Selbstbefragen, einen schönen Sprung in den April und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und lesefreudig und bis demnächst.

Und da übrigens gleich in zwei Büchern dieses Newsletters von Eulenspiegel in Bernburg die Rede ist, soll hier noch auf die berühmte Sage verwiesen werden, die folgendermaßen anhebt und mit der Entlassung des Schalks endet:

„Der Graf von Anhalt lebte auf seiner Burg in Bernburg. Eulenspiegel hatte als Turmbläser die Aufgabe, nach Feinden Ausschau zu halten und bei Gefahr ein Signal auf einem Horn zu tuten.

Während Eulenspiegel so auf seinem Turm saß, ließen es sich der Graf und die Ritter gut gehen. Sie speisten und tranken – aber keiner dachte daran, Eulenspiegel mit Essen zu versorgen.“ Da haben Sie ein mögliches Motiv zu handeln. Schauen Sie mal nach …

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